GESINE PALMER
Apokalyptische Müdigkeit
Die aber auf den Herren hoffen, tauschen Kraft ein; sie steigen auf mit Schwingen wie Adler, sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt. [1]Wehe denen, die sich den Tag des Herrn herbeiwünschen! Was soll euch der Tag des Herrn? Er ist ja Finsternis, nicht Licht. [2]
"Alles lediglich darum, damit die Menschen sich endlich doch einer ewigen Ruhe zu erfreuen haben möchten, welche denn ihr vermeintliches seliges Ende aller Dinge ausmacht; eigentlich ein Begriff, mit dem ihnen zugleich der Verstand ausgeht und alles Denken selbst ein Ende hat." [3]
I. Vorbemerkung über die zur Debatte stehenden Allgemeinplätze, Grundbegriffe und Texte
Messianismus ist die religiöse Haltung der Hoffnung auf eine neue Zeit, Apokalypsen sind aufregende, bildgewaltige Texte über das bevorstehende Ende der Welt, die in aller Regel zum Kampf in dieser Welt aufrütteln?
Ganz so ist es nicht. Damit der Messianismus" eine hoffnungsvolle Haltung" bleiben kann, die wirklich auch noch hoffen läßt, muß er einigen theoretischen Operationen unterzogen werden. Damit er überaupt entsteht, muß vielleicht erst einmal die Hoffnung, das Leben könne anders als durch das Kommen des Messias erträglicher gemacht oder gefunden werden, geschwunden sein. Um Gefallen an den Katastrophenszenarien der Apokalypsen zu finden, muß man der Bahnen, in denen das vorapokalyptische Leben verläuft, einigermaßen müde sein. Um Zuflucht für das Verlangen nach Gerechtigkeit und Wahrheit nur noch in einer ein für allemal nämlich in einem letzten Gericht - etablierten Ordnung der Welt zu suchen - die dann zwangsläufig mit deren Ende zusammenfällt - , muß man der anstrengenden und oft vergeblichen irdischen Liebesmüh um beide müde sein: müde der unaufhebbaren Anfälligkeit aller irdischen Gerechtigkeit für den erneuten Einbruch von Ungerechtigkeit und müde der unüberwindlichen Anfälligkeit aller Erkenntnis für den Irrtum.
Um das Messianische, das Apokalyptische gar, als die geistige Strömung zu nehmen, die alles Festgefahrene öffne, um sie in dieser Weise umstandslos auszuspielen gegen das Gesetzliche, das alles Zukünftige verschließe, indem es ihm Vorschriften zu machen versuche und es in Planungen der Vergangenheit gefangen nehme, muß man schon die Augen sorgfältig verschließen vor dem 1 und 2 der jeweiligen Strömungen in den Traditionen von Juden und Christen, die Gesetzliches und Messianisches und Apokalyptisches hin und her und wieder zurück denken in einem Kontext von Erzählungen, Liturgie und Hermeneutik, der sich zum Inhalt" der auf solche Weisen memorierten und kommentierten Texte nicht beliebig verhält.
Apokalypsis heißt Offenbarung, Aufdeckung von zuvor Zugedecktem, Verborgenem, Geheimem. Messias, Meshiach, ist das hebräische Wort für der Gesalbte", nichts anderes als griechisch Chreistos, lateinisch Christus: das ist zunächst einfach ein Herrschertitel, der das Körperlichste am Zeremoniell der Einsetzung des Königs zum Namen macht, und zwar an einem ganz bestimmten Punkt: der Gesalbte ist durch die Salbung bereits eingesetzt, aber das Öl ist sozusagen noch frisch, es ist noch nicht in Ausübung seines Amtes in der Haut verschwunden, der Gesalbte ist schon bestimmt, aber er ist noch nicht tätig. Der Name Apokalypse, dem Wortsinn nach ein Terminus, der auch für Offenbarungen über die Schöpfung oder worüber auch immer man eine Offenbarung wünscht, verwendet werden könnte, wird seit langem in Theologie und Religionsgeschichte nur noch für solche Texte verwendet, die das nahende Ende der Welt, das Ende der Zeit, das Ende aller Dinge zu offenbaren behaupten, und wenn sie diese Offenbarung mit einer über den göttlichen oder gottmenschlichen Gesalbten oder den von Gott gesalbten Menschen, der kommen wird, verbinden, dann heißen sie messianische Apokalypsen. Eine solche ist sicher der Text, der allen weiteren Apokalypsen seinen Namen gegeben hat, die Offenbarung des Johannes, aber es gibt aus den Jahrhunderten um die Entstehung dieses Textes erheblich mehr Texte von ähnlicher Art, die späte Nachahmungen in der gesamten jüdischen und christlichen Welt gefunden haben. Ihre Aura des Revolutionären haben sie, weil sie häufig in mehr oder weniger revolutionären Gruppen zirkulierten, so dass man annehmen konnte, die Erwartung eines recht bald bevorstehenden Weltendes habe auf die Menschen, die daran glaubten, aktivierend, vielleicht gar fanatisierend gewirkt, nämlich so, dass sie es beschleunigen und bei seinem Kommen in jedem Fall in der richtigen Aktion angetroffen werden wollten. Andererseits sind die größten und erfolgreichsten Revolutionen offenbar recht gut ohne derartige Apokalypsen ausgekommen, und auch die Bedeutung einer konkreten Naherwartung" der Parusie, der Wiederkunft Christi, für die Ausbreitung des Christentums kann mit Fug bezweifelt werden.
Ich will im folgenden das Problem der Apokalypsen und des Messianismus im wesentlichen an zwei Texte diskutieren, deren erster das relativ wenig gelesene apokryphe Buch mit dem Namen 4. Esra ist, der zweite die späte Schrift Immanuel Kants über Das Ende aller Dinge". Unterwegs werden einige andere Texte zu Wort kommen. (Nur über Paulus selbst, der in der Ankündigung meines Vortrags genannt ist, will ich gegenwärtig nichts sagen; ich freue mich einerseits, daß er mittlerweile philosophisch rezipiert und einer gewissen protestantischen Lesart ebenso entwendet wird wie den wüsten Verwerfungen, die ihn etwa von seiten eines Reimarus trafen, zugleich bin ich tief skeptisch gegenüber einer gewissen Konjunktur des Messianischen und insbesondere des paulinischen Messianismus. Jacob Taubes pflegte in seinen Paulus-Vorlesungen zu den Theologen in seinem Publikum zu sagen, Sie lesen das ja seit zweitausend Jahren, da haben Sie viel zu vergessen, und irgendwie hatte er damit recht; selbst wenn niemand wirklich zweitausend Jahre lang Paulus gelesen haben kann, muß man sich nach dieser Zeit einer Menge von Lesarten entlesen, bevor man ihn weder heroisierend noch dämonisierend lesen kann im Unterschied zu Taubes neige ich eher zur dämonisierenden Lesart, und mit Dämonen geht man erfahrungsgemäß am besten so um, daß man ihnen einen Platz anbietet und ihnen etwas vorliest, mit dem sie vielleicht etwas anfangen können, so daß sie von ihren unerwünschten hektischen Aktivitäten absehen).
II.Lebens-und Weltmüdigkeit in der Hebräischen Tradition
Das Ende dieser Welt herbeizusehnen, es herbeizuphantasieren, das ist keine kleine oder leichte Sache, zugleich keine, die man den Apokalypsen allzu schnell ausreden oder wegallegorisieren sollte. Nein, in den meisten apokalyptischen Texten geht es schon auf das jüngste Gericht und das Ende der Welt zu, und es gibt keinen guten Grund, an dergleichen gewöhnt zu sein. Zunächst einmal, so könnte man in Umkehrung eines wichtigen Satzes aus Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung sagen, will doch der Mensch", was er soll: nämlich bleiben. Franz Rosenzweig hatte gegen alle philosophischen Versuche, den Schrecken des Todes herunterzuspielen und zu einer den Tod schätzenden Haltung aufzufordern, einen geradezu jesuanisch klingenden Ich-aber-sage-euch-Satz geschrieben: Der Mensch soll die Angst des Irdischen nicht von sich werfen; er soll in der Furcht des Todes - bleiben." [4] Das ist der erste Trompetenstoß Rosenzweigs zur Neueinsetzung dessen, was er das natürliche Denken nennt. Und zunächst sieht das ja auch ganz natürlich auch, daß man bleiben will: Am Leben bleiben, in der Welt bleiben, bei Sinnen bleiben, die bleiben, als die man sich kennt, in der Nähe derer, die einem lieb sind, bleiben, womöglich sogar heute abend zuhause bleiben. Selbst wenn ein Mensch zu bestimmter Zeit das Letztere nicht will, wenn er weggehen will, etwas Neues sehen und ein anderer werden will, so will er doch nicht gleich die Welt verlassen, schon gar nicht will er seinerseits von der Welt verlassen werden, sondern wenn er auch geht, so will er doch ein Zuhause zurücklassen, das ihn nötigenfalls wieder aufnimmt, und wenn er sich ganz verändern will, dann sicher nicht so, daß er sich nicht wiedererkennen könnte, denn dann wäre er ja gar nicht mehr da, um sich an seiner Veränderung zu freuen, diese selbst wäre also ganz sinnlos, wenn nicht etwas bliebe wie es war, in dem, der sich verändert hat, ebenso wie in der Welt um ihn her. Alle Schritte weg von dem, in dem man bleiben wollte, in etwas signifikant Neues sind, wie jeder weiß, obwohl man es in Zeiten idealisierter Flexibilität vielleicht ein bißchen zu vergessen versucht, mit schweren seelischen Erschütterungen verbunden, die in allen Kulturen durch bestimmte rites de passage, Übergangsriten wie Taufen, Beschneidungen, Konfirmationen, Hochzeitsfeste, Hausanwärmfeste, Trauerjahre, Begrüßungshöflichkeiten, Inaugurationen etc., erleichtert werden sollten. Diese Riten selbst sind Versuche von Gemeinschaften oder Gesellschaften, individuelle Übergänge von Gewohntem zu Neuem mit etwas Gleichbleibendem zu umgeben, damit nach dem Verlust der alten Haut auch die neue Haut eine erkennbare sei, damit es also einen Übergang von einem auf bestimmte Weise definierten" oder, horribile dictu, geregelten" Leben in ein anderes, seinerseits definiertes" oder geregeltes" Leben gebe. Nur beim Übergang vom Leben zum Tod ist diese Erleichterung nicht mehr möglich. Zwar ist sie unverdrossen immer wieder versucht worden, und doch haben die Philosophen unter den Menschen bemerken müssen, daß sie selbst und andere Menschen Angst vor dem Sterben und vor dem unvorstellbaren Zustand des Todes hatten, die so schwer erträglich war, daß sie schließlich den Tod selbst zu etwas umzudeuten wünschten, das wünschbar sei. Gegen solche nicht wirklich tröstlichen Umdeutungen richtet sich Rosenzweigs Satz, nach dem der Mensch zunächst will, was er bei Rosenzweig auch soll, nämlich bleiben. Bei Rosenzweig ohne die Furcht des Todes zu leugnen.
Aber das ist eine ganz späte Stufe: die Abwehr aller Tröstungen gegen die Todesfurcht ist dabei später als die Tröstungen selbst, und die Tröstungen dokumentieren ihrerseits ein Bewußtsein von der natürlichen Trostbedürftigkeit angesichts der Todesfurcht. Davon strikt zu unterscheiden ist nun ein menschenmöglicher Zustand, in dem Todesfurcht wirklich nicht gefühlt zu werden scheint, in dem vielmehr der Tod und das Ende der Welt ersehnt werden nichts mehr von Bleibenwollen. In apokalyptischen Texten hat man es mit einer Furcht und einer Erschütterung zu tun, die so groß sind, daß kein Bleibenwollen mehr erkennbar ist. Individueller Tod und Tod oder Ende der Welt, dieser Welt, dieses Lebens, werden als Erlösung herbeigesehnt, das Leben und die Welt können allenfalls noch gewollt werden, wenn sie radikal gespalten werden: in diese und jene, in diese und die kommenden. Apokalyptische Texte dokumentieren so als erste kollektives Nichtmehrbleibenwollen, Verwerfung dieser gesamten Welt. Ihre phantastische Sprache ist voll von destruktiven Bildern, vergleichsweise arm sind die Visionen der Erlösung selbst. In den früheren, sozusagen vorapokalyptischen hebräischen Überlieferungen stellten die Menschen auch in größter Not nicht entfernt in Frage, daß sie wollten, was sie nach Rosenzweig sollen, nämlich bleiben, und noch in den unwahrscheinlichsten Visionen der Propheten von einer besseren Welt ist es doch diese Welt, deren Verbesserung imaginiert wird, es ist die mit dem Gesetz gegebene Verheißung, daß das Gesetz dereinst wirklich bestimmend sein werde in der Welt, und wohl dem, der die Verwüstungen, die ihrer Umwälzung zum Besseren vorausgehen, übersteht. Es gibt bei den Propheten Müdigkeit und Verzweiflung in der Welt, aber es gibt auch einfache Hoffnung auf die göttliche Verheißung und ihre Erfüllung in der Welt.
Die Müdigkeit, die sich immer in der Literatur, von anderem weiß ich es nicht - erst zur Zeit des zweiten Tempels ausbreitet, hat eine andere Qualität als die der großen Propheten aus der Zeit um den Untergang des ersten Tempels. Sie setzt mit dem Wert des Lebens selbst schließlich eine Vorstellung von Gerechtigkeit aufs Spiel, die den Alten ganz unzweifelhaft war. An dieser Stelle bricht der Streit aus zwischen Juden und Christen, zwischen Apokalyptikern und Frommen innerhalb der jeweiligen Religionen, zwischen Evangelien, Aposteln und dem aufkommenden Rabbinismus, der in den Evangelien unter dem Namen der Pharisäer bekriegt wird, an dieser Stelle findet auch der Streit zwischen den einen und den anderen Philosophen jenseits" der Religionsstreitigkeiten seinen Anlaß.
Zwei Gründe kennt die Hebräische Tradition vor und nach der Zerstörung des zweiten Tempels, aus denen es nahe liegen kann, am Wert des individuellen Geborenseins und am Wert der Schöpfung insgesamt zu zweifeln: Der erste ist bekannt unter den Namen Hiobs und Kohelets, nur er ist im Kanon der Hebräischen Bibel vertreten. Hiob verflucht den Tag seiner Geburt und die Nacht, in der er gezeugt und empfangen wurde (3,3-16) [5], und er wünscht sich mehr als einmal an die Stelle der Fehlgeburt, die vom Mutterleib wie nie gewesen weg zum Grabe gebracht worden wäre (3,16;10,18f). Der Grund ist sein Leiden als Unschuldiger. Hiob wird gehetzt davon, daß alles, vor dem ihm graute, wirklich wird: denn schreckte mich ein Schrecknis, alsdann traf es mich; wovor mir graute, das kam über mich. Noch hatte ich nicht Frieden, noch nicht Ruhe, noch keine Rast, da kam schon wieder Ruhelosigkeit"(3,25f). Es ist zunächst die Ruhelosigkeit, deretwegen er sich denen zurechnet, die des Todes harren, doch umsonst, und sehnlicher nach ihm als nach Schätzen suchen" (3,21), die Ruhelosigkeit produziert die klagende Frage warum schenkt Er dem Elenden das Licht und Leben den mit Bitternis Erfüllten?" (3,20). Das Licht ist für die Elenden ein schlechtes Geschenk, das Leben selbst eine Plage für die, die mit Bitternis erfüllt sind. Aus den älteren Prophetenbüchern sind Klagen über die Ungerechtigkeit des irdischen Lebens wohlbekannt, und sie kommen zusammen mit Unheilsdrohungen gegen die ruch- und gottlosen Reichen und mit Ankündigungen einer Umkehrung der Verhältnisse nach einem Gerichtstag. Aber das Leben selbst in seinem Wert wird niemals angezweifelt, niemals zuvor Gott selbst so deutlich zur Rechenschaft gezogen für seine Ungerechtigkeit, Härte und Verborgenheit, niemals zuvor die Klage über die soziale Not zum bloß verstärkenden Hintergrund für die lebensmüde Klage eines Einzelnen (Kap.24-31). Die zwischen Gott und Satan ausgehandelte Versuchung Hiobs sah vor, ihm nichts weiter zu lassen als Leben und Verstand. Hiob versteht die Grausamkeit. Die Freunde ihm gegenüber verstehen nichts, denn das wollen sie nicht. Sie leben und argumentieren nach bestem Wissen und Gewissen in etwas, das christliche Theologen den Tun-Ergehenszusammenhang" nennen, also in der Vorstellung, daß es in der Welt den Guten gut und den Schlechten schlecht ergehe, daß also das Wohlergehen abhänge von Wohlverhalten gegenüber Gott, punctum. Man kann es auch die Vorstellung immer schon erfüllter, immer schon gegebener Gerechtigkeit nennen. Das Buch Hiob sei das Buch, in dem diese einfache Gerechtigkeitsvorstellung erstmals in Frage gestellt werde. Bauernschlau und praktisch bringt Hiobs Frau, Rosenzweig nennt sie dafür unsterblich", das Ausmaß seines Herausfallens aus dem bis dahin geltenden Bedeutungszusammenhang auf den Punkt: sie fragt ihn, ob er immer noch an seiner Frömmigkeit festhalte und rät dagegen: fluche Gott und stirb (2,9). Hiob tut nichts von dem, was ihm geraten wird, weder gibt er zu, daß er schuldig, sein Unglück also die verdiente Strafe für seine Sünden sei, noch flucht er Gott und stirbt. Statt dessen fordert er Gott heraus mit seinen Klagen und Fragen, er ruft ihn mehrfach regelrecht zum Gericht, und schließlich antwortet Gott, an sich eine Ehre, aber er antwortet damit, daß er nun einmal stärker sei und tue, was er tue, daß Hiob schwach sei - und Hiob unterwirft sich. Daraufhin werden die Freunde gedemütigt, ihre Gerechtigkeitsvorstellung ist Gott allemal zu klein, nur Hiob, als er erkennt, daß er nicht nur diese kleine, sondern auch seine eigene größere Idee von Gerechtigkeit aufgeben muß, wird belohnt, indem er doppelten Ersatz für alles Verlorene bekommt und schließlich alt und lebenssatt sterben darf. Ich übergehe die übrigen Probleme des Textes (zum Beispiel die Frage, wie eng der Schluß zum ursprünglichen Text gehört) und konstatiere nur, daß hier der Grund für den Zweifel am Wert des Lebens die Ungerechtigkeit der Welt ist, die Hiob gegen den Glauben an eine bereits bestehende Gerechtigkeit der Welt zur Erscheinung bringt. Hier, etwa im 4. bis 3. Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, wird in der hebräischen Tradition erstmals klar ausgesprochen: die Welt ist nicht gerecht. Gott hat sie so geschaffen. Die Menschen leben im Elend und sind verpflichtet, dies dankbar anzunehmen, treu an der Forderung nach Gerechtigkeit festzuhalten, obwohl sie von ihrer eigenen Ohnmacht wissen, und obwohl sie Gott nicht dazu verpflichten können, seinerseits für die Gerechtigkeit, die er fordert, zu sorgen. Diese schenkt er entweder, oder er schenkt sie nicht, er erhört Gebete, oder erhört sie nicht, und gerecht ist er in Hiobs Klagereden nur, insofern er jedenfalls die Gebete der Ungerechten keinesfalls beantwortet.
Kürzer, allgemeiner und müder, ohne den Gott in diesem Zusammenhang auch nur zu erwähnen, spricht Kohelet etwa zur gleichen Zeit dieselbe Sache aus: Ich wandte meinen Blick auf all die Bedrückungen, welche geschehen unter der Sonne. Sieh da die Tränen der Unterdrückten, sie haben keinen Tröster; von der Hand ihrer Bedrücker kommt Gewalt, und sie haben keinen Tröster. Da pries ich die Toten, die längst gestorben, glücklicher als die Lebenden, die noch am Leben sind, und höher als beide den, der noch nicht ins Dasein trat und das üble Geschehen nicht sah, das vorgeht unter der Sonne."(Kohelet 4,1f) Auch hier ist die fehlende Gerechtigkeit der Grund, aus dem die Lebenden unglücklicher sind als die Toten, und die Ungeborenen die glücklichsten. Beide Bücher geben eigentlich keine Auflösung, der Messias spielt keine Rolle (bei Hiob gibt es Göttersöhne, einer von ihnen ist Satan, der will gerade Hiob versuchen und tut das mit Gottes Zustimmung); wenn man durchaus einen moralischen Gewinn" aus ihrer Lektüre ziehen will, dann ist das wohl immer nur die Anerkennung des Rechts zur Klage und die Aufforderung, das Leben zu ertragen in Frömmigkeit und Weisheit, obwohl es das eigentlich nicht wert ist, obwohl es vor allem besser wäre, nicht geboren zu sein.
Dabei konnte es wohl nicht bleiben.
Der zweite Grund, aus dem in einer wiederum späteren Hebräischen Tradition der Wert von Welt und Schöpfung, vor allem aber der Wert des menschlichen Lebens und des Verstandes in Zweifel gezogen wird, scheint dem ersten ganz und gar entgegengesetzt zu sein. Er findet sich klar ausgesprochen in einem Text, der nach der Zerstörung des zweiten Tempels geschrieben und nur in einigen Handschriften der Septuaginta als Teil des Kanons der Hebräischen Bibel überliefert wird. Im vierten Esrabuch ist der Grund für den Wunsch, nicht geboren zu sein, gerade die vollständige Gerechtigkeit, wie sie hergestellt werden soll am Tag des Gerichts, mit dessen Erwartung die Elenden Israels sich seit der Zeit der großen Propheten zu trösten suchten. In der Zeit um die Zerstörung des Tempels hatte sich das, was Jacob Taubes das apokalyptische Fieber nannte, in der jüdischen Welt ausgebreitet, und Spekulationen über ein bevorstehendes Gericht, über das Ende dieses Äon, waren weit verbreitet, das Auftreten von Messiassen" oder Messiasverkündern eine wiederkehrende Erscheinung. Das messianische Zeitalter sollte alles Krumme gerade machen, es sollte eine Welt frei von Übeln bringen, es sollte die Guten, denen es erging, wie es die Schlechten verdient hätten, zu den Ehren und dem Wohlstand bringen, den sie verdienten, und die Schlechtigkeit der Schlechten erweisen, und in alledem sollte es natürlich die Befreiung Israels von der Fremdherrschaft bringen. Alles das aber so, daß es diesmal nicht mehr umkehrbar wäre, und alles das so, daß es für alle vergangenen Zeiten wie für die Gegenwart die Gerechtigkeit herstellte, die totale, die letzte Gerechtigkeit.
Nun hat eine solche Gerechtigkeit, wenn man sie ernsthaft auf sich zu kommen sieht, ihre Schrecken für jeden, der nicht so sicher ist wie etwa Hiob, daß er sich keiner Verfehlung schuldig gemacht hätte. In Kommentierung der oben als zweites Motto angegebenen Stelle aus Amos liest man im Talmud Bavli, Masechet Sanhedrin, das Folgende: Ula sagte: Mag der Messias kommen, ich aber will ihn nicht erleben. Ebenso sagte Raba: mag er kommen, aber ich will ihn nicht sehen. [was nun, sehen oder erleben?] R. Joseph sagte: Mag er kommen und ich gewürdigt sein, im Schatten des Mistfladens (des Sattels, nach manchen Handschriften) seines Esels zu sitzen. Abaje sagte zu Raba: welchen Grund hast du? Soll das besagen: wegen der Geburtswehen des Messias, so wird doch gelehrt: Die Schüler fragten Rabbi Elasar: Was kann ein Mensch tun, damit er aus den Geburtswehen des Messias errettet werde? Er befasse sich mit der Weisung und mit der Erfüllung von Liebestaten! Aber du, Meister bei dir ist die Weisung und bei dir die Erfüllung von Liebestaten. Er sagte: vielleicht gibt die Verfehlung doch eine Ursache." [6]
Vielleicht, mit anderen Worten, ist auch Rabbi Elasar nicht gut genug, um die katastrophischen Geburtswehen des messianischen Zeitalters unbeschadet zu überstehen, vielleicht reichen seine guten Taten nicht im Gericht. Was hier in einer einfachen drastischen Entgegensetzung zu den sonst vorherrschenden hoffnungsvollen Reden der Amoräer zum messianischen Zeitalter erscheint, wird zum ersten Mal, so weit ich sehen kann, im 4. Esrabuch nicht nur visionär entfaltet, sondern zugleich systematisch problematisiert.
III. Eine müde, zugleich die noch Müderen wachrüttelnde Apokalypse
Dieser Text ist vermutlich zwischen 90 und 100 n.Chr. entstanden,[7] über den Autor, der sich zu Beginn als Shaaltiel der auch Esra hieß" vorstellt, ist nichts bekannt. Die Datierung beruht auf wenigen Hinweisen, etwa dem, daß der Seher seine (insgesamt sieben) Visionen bzw. Auditionen dreißig Jahre nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels gehabt habe. [8]
Im Unterschied zu den Visionären in anderen Texten apokalyptischen Inhalts, ist der Seher hier viel mehr als ein Seher: er diskutiert, man möchte sagen: er rechtet" mit dem Engel Uriel, der ihm die Offenbarung gibt, er rechtet in der letzten Audition auch mit Gott, der aus dem Dornbusch zu ihm spricht, und was er am Ende als Offenbarung akzeptiert, scheint mir keineswegs in einem flach apokalyptischen Sinn aufzugehen. Täte es das, wäre der Text allerdings das größte Beispiel für die Müdigkeit der Apokalyptiker. Zunächst einmal aber ist der Ich des 4. Esrabuches vor allem schlaflos. Sein Problem ist ganz das alte, den Gottlosen geht es schlecht, Gottes Erwählte, Israel, sind den Heiden preisgegeben, der Tempel zerstört. Und: "Das Gesetz unserer Väter ist vernichtet, die geschriebenen Satzungen sind nicht mehr, wir schwinden aus der Welt wie Heuschrecken, unser Leben ist ein Rauch." [9] Das Ende der Satzungen ist das Ende einer angemessenen Existenz als Volk, das letztere löst sich auf.[10] Die wenigen, die ihr Leben dennoch an die alten Satzungen binden, werden geschunden und sind ihrer Schande müde. Esra wird schließlich sehr deutlich, wenn er den Gott fragt, ob er mit alledem nicht sich selbst zerstöre, denn: Was wird mit dem Namen Gottes, der doch über seinem Volk ausgesprochen ist? Wer wird ihn ehren, wenn das Volk nicht mehr da ist? Fast sagt er also, Gott begehe Selbstmord oder jedenfalls Mord an seinem Namen, indem er sein Volk der Zerstörung preisgebe. Darauf antwortet Uriel, ein Gottesbote, und seine Antwort legt dem Äon" die Müdigkeit auf. Der eilt in der Tat mit Macht zu Ende", denn "er vermag es ja nicht, die Verheißungen, die den Frommen für die Zukunft gemacht sind, zu ertragen; denn dieser Äon ist voll von Trauer und Ungemach." [11] Somit will Gott nicht sich zerstören, aber immerhin den gegenwärtigen Äon, der damit einen zweiten Äon zur Seite gestellt bekommt, von dem er sich unterscheidet. (Wie übersetzt man Äon? Rekonstruktionen der hebräischen Vorlage würden sicher Olam" an diese Stelle setzen, Olam Haseh und Olam Haba, dann hieße es Welt; aber etwas von Zeit ist mit im Wort Äon; ich lasse es so stehen). Esra stellt die dem Bedrängten nahe liegende Frage, wann denn dieser ungemächliche Äon am Ende sein wird. Antwort: das haben die Gerechten in ihren Grabkammern auch schon gefragt (4,35-37), und ihnen ist gesagt worden, bis die Zahl der Gerechten voll ist; welche Zahl das ist, wird nicht gesagt, auch nicht, wer sie wann festgelegt haben kann und warum. Also: jetzt sind die Gerechten in ihren Kammern ihrer Ruhe müde. Denn die Ruhe ist ein Warten, und zwar ein Warten darauf, daß sie, die in Schande umgekommen sind, gerecht gesprochen werden. Die Antwort auf die Frage nach dem Lohn der Gerechtigkeit oder der Frömmigkeit wird vertagt, verzeitlicht, nicht jetzt, aber dann, keine prinzipielle Ungerechtigkeit der Welt, nur eine temporäre. Uriel sieht als letzte Möglichkeit, die Idee der Gerechtigkeit Gottes gegen die Anklagen der unverdient leidenden Menschen zu retten, die Konstruktion eines Zeitablaufs nach göttlichem Plan, der von den einzelnen Taten der einzelnen Menschen unabhängig gedacht wird. Das ist die für die Vorstellung von Geschichte und ihrem Ende zentrale Stelle. Die Zeit der Welt ist bemessen, die versprochene Ordnung, an die die Frommen geglaubt haben, obwohl ihre Geltung nicht sichtbar war und obwohl ihnen der Glaube zum Schaden gereichte, wird eintreten, und ihr Zeitmaß ist unabhängig von den Taten der Menschen. Die Zeit selbst trägt Verheißung und Erfüllung als ihr eigenes Prinzip. Shaaltiel macht die Gegenprobe: er fragt nämlich, ob nicht die Sünden auch der Israeliten vielleicht das Kommen des Endes verzögern könnten. Und es wird ihm gesagt, nein, das werden sie nicht, so wenig wie der Schoß einer Schwangeren nach neun Monaten noch das Kind halten kann, so wenig wird der Äon seine Verheißungen halten können über den festgesetzten Tag ihrer Erfüllung hinaus, und die Kammern des Hades werden die Seelen, die bis dahin in ihnen verwahrt wurden, freigeben. Solange dürften die - offenbar keineswegs ruhigen - Gerechten in ihren Kammern ruhen, heißt es, "er stört sie nicht und weckt sie nicht auf" (4,37). Dann aber, wenn die Zeit aus ihrem eigenen Prinzip den Tag erreicht hat, dann wird aus der alten die neue Zeit geboren, die Geburtswehen sind die Katastrophen jener, nein, für Esra dieser Zeit, und die Geburt selbst ist das Gericht.
Zum Gericht werden die Gerechten aus ihrem Todesschlaf geweckt, genauso wie die Ungerechten. Im Gericht werden sie ihren unverlierbaren Lohn empfangen für ihr Festhalten am Gesetz. Das sieht so aus, als müßten sie sich darauf freuen, als auf eine letzte Freude, die zugleich ewige Freude wäre.
Aber die Erbarmungslosigkeit des Gerichts, vor dem jeder nur für sich selbst einstehen kann, erschreckt den Esra, bis schließlich die Idee der totalen Gerechtigkeit, die von Uriel eisern durchgehalten wird, ihn veranlaßt, die Weisen unter seinen Lesern mit einem kräftigen Weckruf wieder zurück in ihre Gegenwart zu treiben, denn schlimmer als die Müdigkeit des Bleibenmüssens in einer ungerechten Welt ist die Müdigkeit, die an der verwirklichten Idee der Gerechtigkeit entstehen muß. Esra, beunruhigt von der Aussicht auf ein abschließendes Gericht, fragt, ob die Gerechten dort für die Gottlosen eintreten können, und erhält folgende Antwort: "Wie schon jetzt kein Vater den Sohn, kein Sohn den Vater, kein Herr den Knecht, kein Freund den Genossen senden kann, daß er für ihn krank sei/erkenne, schlafe, esse oder sich heilen lasse, so wird auch dann keineswegs jemand für irgendwen bitten noch jemanden anklagen dürfen; dann trägt ein jeder ganz allein seine Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit" (4.Esra 7,104f). [12] Der Frage, wieso dann Abraham, Mose, Josua, Samuel, David, Salomo, Eliahu und viele andere Fürbitten leisten konnten, wird die folgende Antwort zuteil: Erbarmung und Fürbitte sind von dieser Welt, diese ist nicht das Ende, "ihre Herrlichkeit bleibt nicht beständig, darum haben Starke für Schwache beten dürfen. Der Tag des Gerichts aber ist das Ende dieser Welt; darinnen ist die Verderbnis vorüber etc." [13]
Das Ende mag unabhängig von den Taten der Menschen kommen. Ist es aber einmal da, dann gibt es keine Bewegung mehr. Gutes wird nicht wieder schlecht, und Schlechtes wird nicht wieder gut. Sowohl Verderbnis als auch Erbarmen setzen Veränderung voraus, also Zeit. Die Vorstellung von deren Ende offenbart nun eine notwendige (und ungleichzeitige) Beziehung von Verderbnis und Erbarmen:
Wo keine Verderbnis ist, ist auch keine Stelle für Erbarmen und Fürbitte, also sind auch diese selbst verschwunden. [14] Gerade an dem Punkt schlägt im 4. Esra-Buch die Sehnsucht nach dem Ende als Gericht um in ein Grausen vor dem Ende als Urteil, das das ganze Buch durchzieht und zentrales Thema einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Shaaltiel/ Esra und Uriel bzw. Gott selbst wird. Esra antwortet dem Höchsten: "Dies bleibt mein erstes und mein letztes Wort: Besser wäre es, die Erde hätte Adam nie hervorgebracht, oder sie hätte ihn wenigstens von der Sünde ferngehalten. Denn was hilft es uns allen, daß wir jetzt in Trübsal leben müssen und nach dem Tode noch auf Strafe zu warten haben?" [15]
Das ist weder sein erstes Wort noch bleibt es sein letztes. Aber, ziemlich genau in der Mitte des Textes gesagt, ist es ein Wort, in dem Esra ausspricht, daß er schließlich auch der kommenden Welt nicht recht froh werden kann, es ist ein Wort, das vom Ende zurück in die Zeit treibt, der man doch müde war, es ist ein Wort der Müdigkeit nicht nur über den einen Äon sondern über beide, über den ersten unmittelbar wegen seiner Plagen und seiner Ungerechtigkeit, über den zweiten mittelbar, weil er den ersten mit seinem Elend voraussetzt und gerade genug Licht auf diesen werfen kann für die Einsicht, daß ein verlorenes Leben verloren bleibt, und daß das traurig ist, daß es besser wäre, es gäbe kein solches Leben, daß es, wenn es so ein Leben schon geben muß, besser wäre, es gäbe nicht noch die Vernunft dazu, die es erkennen läßt, aber zu schwach ist, die Menschen von ihrem Verderben fernzuhalten [Stelle, das steht im Text!].
Die im ersten Äon Geplagten drängte es zum Augenblick der Wahrheit. Zum Augenblick, in dem sie einmal offenbar würde, aller Welt. Die Wahrheit nämlich, daß sie, die an den geschlagenen Satzungen festhalten, die Welt aufrechterhalten, von der und auf der noch ihre Verfolger leben und es sich wohlergehen lassen. Dies Einmal des Offenbarwerdens wäre in der Tat eine schöne Vorstellung für alle Leidenden, besonders aber vielleicht für alle Verwirrten oder fast Irregewordenen, die im Streit verschiedener Ordnungen an der unterliegenden festgehalten haben, aber es fast nicht mehr konnten: Am Ende der Zeiten wird das Verborgene offenbar werden, die verborgenen Motive derer, die dadurch als die wahrhaft Guten bzw. die wahrhaft Schlechten offenbar werden, trotz allen Anscheins vom Gegenteil, und das wahre Gesetz der Welt, das lange verschleiert war, wird sich zeigen. In diesem Sinne sind apokalyptische Texte in ihrer "paränetischen Absicht" auch immer schon als "Durchhaltetexte" verstanden worden. Das Fürallemal eines solchen einfürallemaligen Augenblicks der Entscheidung verstand man als notwendig mit dem Einmal des Endes verbunden: Wenn im letzten Augenblick alles offenbar wird, dann muß ausgeschlossen sein, daß darauf etwa noch etwas anderes folge, das die endlich einmal offenbar gewordene wahre Ordnung der Dinge wiederum nur in Frage stellen könnte.
Aber das Fürallemal ist eigentlich nicht zu denken, und wer es doch konsequent tut, wie es der Seher des 4. Esra Buches riskiert, der erschrickt mit Recht. An dieser Stelle erst ziehe ich den Esra vorläufig dem Paulus vor, weil Esra hier keine Sekunde zu schnell ist und das Problem des Gesetzes nicht mit dem Problem des Urteils zusammenfallen läßt, wie das bei Paulus möglicherweise geschieht. Esra stellt das Problem aber nicht nur maßvoller als Paulus, sondern zugleich in einem gewissen Punkt radikaler: Er entflieht dem Problem der totalen Gerechtigkeit nicht, indem er etwa zwischen gesetzlicher und anderer Gerechtigkeit unterschiede, sondern er macht deutlich, daß alle Gerechtigkeit, sei sie bloß gesetzlich" oder besser" begründet, als irgendwie unpassend zur Welt und zur Zeit, genauer: als ungeeignet zur "Erfüllung" im Urteil erscheinen muß. Denn sie selbst, die Gesetze und jede anders begründete Gerechtigkeitsidee, sind auf eine der Zeit widerstreitende Weise doch an die Zeit gebunden. Der Augenblick der Wahrheit selbst kann seine Vertreterfunktion nicht tragen, er kann nicht für alle Augenblicke gelten, obwohl seinem Anspruch mit nichts Geringerem Genüge getan werden kann.
Wenn diese Spannung zusammenbricht und die Gerechtigkeit mit der Zeit ganz zusammengezogen wird, dann kommt in noch ganz einem anderen Sinne heraus, worum es hier geht: eine katastrophische Apokalypse. Eben diese ereignet sich im Prinzip in jedem Urteil: in ihm fallen Zeit und Nichtzeit zusammen, in ihm definiert etwas, das zuvor war, durch eine eindeutig gemachte Beziehung auf ein zeitloses Maß, alles, was danach kommen kann, in ihm werden tatsächlich für die Verurteilten Äonen unterschieden. Insofern wäre jedes Urteil eine kleine Apokalypse, ein Weltende.
Das soll noch einmal systematischer erläutert werden.
Die Apokalypse des vierten Esra ist zunächst durch ihren Versuch bestimmt, ein Aufhören der Zeit zu denken. Im Verlauf dieses Versuchs beschreibt sie negativ, in welchem Ausmaß alle Ordnung (und ebenso alles liebende oder erbarmende Absehen von einer bestimmten Ordnung), mag sie auch versuchen, "überzeitlich" zu sein, in ihrem schieren Funktionieren, in ihrer notwendigen Beziehung auf einzelne zeitliche Geschehnisse, die nicht selbst Gesetz sind, ein zeitliches Geschehen ist. Erst in der Beziehung auf eine ewig unveränderliche Gerechtigkeitsidee werden zeitliche" Ereignisse als zeitliche erfahrbar und definiert. Das ist so, wenn man alles auf ein ursprünglich gegebenes Gesetz und dieses auf alles bezieht (ohne die beiden zusammenschnurren zu lassen), und das kann auch so sein, wenn man jeden Augenblick auf ein bevorstehendes abschließendes Gericht und eine darauffolgende bessere Ewigkeit bezieht. Tatsächlich kann man wohl nur, wenn man sie so versteht und letztlich liturgisiert, den Gerichtstag also eher aufschiebt als herbeidrängt, die apokalyptischen Visionen vor ihrer eigenen Müdigkeit retten. Versteht man sie als Visionen, die das Ende herbeidrängen, versteht man sie also als ein ernsthaftes Ersehnen des Weltendes, dann kommt man in die Schwierigkeiten, die Kant in seiner Schrift vom Ende aller Dinge darstellt.
IV. Das Ende aller Dinge
Dort schreibt Kant, in Bezug auf die Johannesapokalypse und die christliche Rede vom jüngsten Tag: "Tage sind gleichsam Kinder der Zeit, weil der folgende Tag, mit dem, was er enthält, das Erzeugnis des vorigen ist. Wie nun das letzte Kind seiner Eltern jüngstes Kind genannt wird: so hat unsere Sprache beliebt, den letzten Tag (den Zeitpunkt, der alle Zeit beschließt) den jüngsten Tag zu nennen. Der jüngste Tag gehört also anoch zur Zeit; denn es geschieht an ihm noch irgend etwas (nicht zur Ewigkeit, wo nichts mehr geschieht, Gehöriges): nämlich Ablegung der Rechnung der Menschen von ihrem Verhalten in ihrer ganzen Lebenszeit. Er ist ein Gerichtstag; das Begnadigungs- oder Verdammungsurteil des Weltrichters ist also das eigentliche Ende aller Dinge in der Zeit, und zugleich der Anfang der (seligen oder unseligen) Ewigkeit, in welcher das jedem zugefallene Los so bleibt, wie es in dem Augenblick des Ausspruchs (der Sentenz) ihm zu Teil ward." [16]
Der letzte Augenblick ist also ein Augenblick der Verurteilung, ein unmöglich zu denkender, als Übergang aber doch gedachter Zusammenprall von Zeit und Nichtzeit im Medium des moralischen Urteils. Dieses letzte moralische Urteil trifft in ungeheuerer Gleichzeitigkeit alle Menschen, die je gelebt haben, und setzt deswegen eigentlich schon vor dem Ende der Zeit etwas voraus, das in der Zeit, wie wir sie erfahren können, nicht geschehen könnte, aber doch in ihr geschehen müßte, da ja ohne Zeit gar nichts geschehen kann. Damit das die Zeit vernichtende ein für allemal gültige Urteil in einem Augenblick gesprochen werden kann, muß es in diesem einen Augenblick alle erreichen. Es, das absolut und ein für allemal in Geltung zu bringende moralische Gesetz, muß also, damit sein endgültiges Urteil über alle je gewesenen Fälle ergehen kann, zuvor schon die physischen Gesetze dieser gewöhnlichen Zeit aufgehoben haben, unter denen alle einmal geboren werden und einmal sterben und nicht wiederkommen. Zudem muß es nicht nur über Fälle, sondern über menschliche Leben in toto gesprochen werden, während doch auch unter dem strengsten und unter dem großzügigsten Gericht niemand als Person immer nur gut oder immer nur böse gewesen sein kann. Das wäre aber schon wieder ein moralischer Einwand gegen das Ende der Zeit. Kants Einwand betraf zunächst nur die Denkmöglichkeit überhaupt: schon vor aller moralischen Empörung ist es empörend, ein Ende aller Dinge zu denken. Und zwar empört ein solcher Gedanke gerade die Fähigkeit des menschlichen Bewußtseins, für die doch von allen biblischen Texten die apokalyptischen die üppigsten Anregungen enthielten: die Einbildungskraft. Kant schreibt: "Daß aber einmal ein Zeitpunkt eintreten wird, da alle Verändrung (und mit ihr die Zeit selbst) aufhört, ist eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung. Alsdann wird nämlich die ganze Natur starr und gleichsam versteinert: der letzte Gedanken, das letzte Gefühl bleiben alsdann in dem denkenden Subjekt stehend und ohne Wechsel immer dieselben. Für ein Wesen, welches sich seines Daseins und der Größe desselben (als Dauer) nur in der Zeit bewußt werden kann, muß ein solches Leben, wenn es anders Leben heißen mag, der Vernichtung gleich scheinen: weil es, um sich in einen solchen Zustand hineinzudenken, doch überhaupt etwas denken muß; Denken aber ein Reflektieren enthält, welches selbst nur in der Zeit geschehen kann." [17] Erst nachdem diese paradoxe Struktur des Gedankens deutlich geworden ist, setzt Kants Verständnis dafür ein, daß man sich in die Fallen der Paradoxe selten ohne Not begibt. Und er räumt ein, daß es nichts geringeres als das Grundproblem der praktischen Vernunft selbst sein kann, das in die apokalyptische Müdigkeit treibt:
"Gleichwohl ist diese Idee [vom jüngsten Tag gp], so sehr sie auch unsre Fassungskraft übersteigt, doch mit der Vernunft in praktischer Beziehung nahe verwandt. Wenn wir den moralisch-physischen Zustand des Menschen hier im Leben auch auf dem besten Fuß annehmen, nämlich eines beständigen Fortschreitens und Annäherns zum höchsten (ihm zum Ziel ausgesteckten) Gut: so kann er doch (selbst im Bewußtsein der Unveränderlichkeit seiner Gesinnung) mit der Aussicht in eine ewig dauernde Veränderung seines Zustandes (des sittlichen sowohl als des physischen) die Zufriedenheit nicht verbinden. Denn der Zustand, in welchem er itzt ist, bleibt immer doch ein Übel, vergleichungsweise gegen den bessern, in den zu treten er in Bereitschaft steht; und die Vorstellung eines unendlichen Fortschreitens zum Endzweck ist doch zugleich ein Prospekt in eine unendliche Reihe von Übeln, die, ob sie zwar von den größern Guten überwogen werden, doch die Zufriedenheit nicht Statt finden lassen, die er sich nur dadurch, daß der Endzweck endlich einmal erreicht wird, denken kann." [18]
So ist es selbst auf dem besten Fuß. Auf dem man sich freilich in moralischer Hinsicht niemals sicher befinden kann, in physischer Hinsicht erst recht nicht. Eine einfache Fortschrittslinie mag man in Fragen der Erkenntnis ziehen, und hier ist dann auch der Gedanke eines letzten Augenblicks einfach nur sinnlos. In moralischen Fragen gibt es neben den Fortschritten deutliche Rückschritte, in physischer Hinsicht neben dem Wachstum vor allem fortschreitenden Verfall, und die Zuflucht zum Allgemeinen nimmt dem Einzelnen nichts davon ab. Also auch die Zeit in ihrer allgemeinsten Bedeutung nicht.
Aber genau das verlangen die Apokalyptiker von ihr. Die Zeit selbst soll müde sein, in all ihren ungerührt von den Konflikten der Menschen voranschreitenden alles überwältigenden Schrecken soll sie doch mit sich schon die Verheißung eines Besseren führen: das steht am Anfang als die Sehnsucht des Shaaltiel, der auch Esra heißt, denn es ist ihm um jeden verlorenen Einzelnen zu tun. Da es aber so sehr um die Einzelnen geht, müssen die sich auch ganz allein im letzten Augenblick verantworten. Die Zeit nimmt ihnen nichts ab, und auch kein anderer Mensch kann ihnen etwas abnehmen. Gerade der zunächst so dringend herbeigewünschte letzte Augenblick war ja ein Augenblick der endgültigen, gesamtgültigen Verurteilung, in welchem die einzelnen Leben zu einem Augenblick zusammengezogen wurden, indem sie dem moralischen Gesetz auf die eine oder andere Weise gleichgemacht" wurden. Letzten Endes wäre dieser Augenblick einer, der zwar die Einzelnen nicht retten könnte, der aber die Gesetze retten würde, deren Ewigkeitsanspruch historisch gerade in Frage gestellt worden war. Indem die Apokalyptiker den historischen" Konflikt zwischen zwei einander widerstreitenden moralischen Systemen zuspitzen auf einen endzeitlichen Entscheidungskampf hin, indem sie einen letzten Augenblick denken, in welchem jeder einzelne für jede einzelne Minute seines Lebens allein einzustehen hat und in welchem über alle zusammen ein Urteil gesprochen wird, das für immer stillstehen soll, bringen sie das ganze Dilemma der Frage von Moral und Zeit an den Tag:
Weder die schreckliche Einsicht in die Endlichkeit der einzelnen Leben noch der Gedanke des unendlichen Fortschritts passen zur ewigen Forderung und zum ewigen Versprechen der Gesetze. Und der Etablierung jener gleichbleibenden Gesinnung, von der Kant nicht nur in seinem Text zum Ende aller Dinge spricht, sind sie nicht angemessen. Gesetze (um wieviel mehr das Gesetz") sollen schließlich in einem Fluß der von Augenblick zu Augenblick geschehenden Veränderungen das Feste bezeichnen, das den Veränderungen das Maß und den je verschiedenen Fällen das formale Gerüst geben kann, welches sie überhaupt in einer gemeinsamen Sprache besprechbar macht. Das tun sie zunächst einmal in ihrer Anwendung" auf Fälle".
Wenn eine Person A eine andere Person B totgeschlagen hat, kann das ein Mord sein: damit es so genannt wird, muß auf ein Gesetz, welches das Totschlagen als Morden verbietet, Bezug genommen werden, in der Sprache der Juristen: Gesetz und Fall müssen einander gleichgemacht" werden, aus dem Sachverhalt", daß A B getötet hat, wird durch Gleichmachung" ein Tatbestand", Mord. Indem im Gerichtsurteil ein bestimmtes Ereignis unter dem Namen eines bestimmten Gesetzes (der Streit zuvor kann sich etwa um die Frage drehen, ob es Totschlag aus Notwehr oder Mord aus niederen Motiven war) beschrieben wird, ist aus dem einzelnen Geschehen ein das Allgemeine betreffender Fall geworden: zugleich ist die Geltung dieses bestimmten Gesetzes für alle vergleichbaren Fälle bestätigt worden. Wird das Geschehen von niemandem auf das Gesetz bezogen, so bleibt zwar B tot, umgekommen durch die Hand von A, aber das Gesetz hat hier keine faktische Geltung. Kein Mord. Darüber, ob es schon Mord ist, wenn A es in einem inneren Richten so nennt, kann man streiten. Sicher sagen kann man aber, daß A, wenn er das Ereignis nicht einmal bei sich richtet oder in der überzeitlichen" Sprache des Gesetzes beschreibt, selbst aus allen Bedeutungszusammenhängen herausfällt, die ihn zu einer Person und das Ereignis zu seiner Tat machen. Umgekehrt, beschriebe er es nur in der immer schon ganz und gar gültigen Sprache eines de facto nicht brechbaren Gesetzes, könnte es überhaupt kein einzelnes Ereignis mehr geben. Wenn, wie dies für den zweiten Äon angenommen wird, ein bestimmtes, das in diesem Äon noch unterlegene, weil immer wieder brechbare Gesetz, ein für allemal in Geltung wäre, dann würde mit dem Töten auch die Möglichkeit des Tötens aufhören, damit wäre das Gesetz absolut gültig und überflüssig. Damit, das hatte Esra schon bemerkt, gäbe es weder Fehltritte noch Erbarmen, und, wie Kant bemerkt hatte, eigentlich nichts mehr. Das Leben in der Zeit scheint gerade gekennzeichnet zu sein durch einen unüberwindlichen, nur im Urteil gelegentlich eingezogenen Abstand zwischen der unendlichen Forderung der Gesetze und den unendlichen Möglichkeiten, sie im Endlichen zu übertreten. Dies bewußt zu halten, ist die Aufgabe der anderen Form, in der die Gesetze in der hebräischen Tradition existieren: gemeint ist die regelmäßige Wiederholung als Memorierung dessen, was sein soll. [19] Die im weitesten Sinne liturgische Form und die in ihr gegebene Scheidung heiliger und profaner Räume und Zeiten erlaubt das Bewußtsein eines Unterschiedes zwischen den "aus einer anderen Welt", den "aus einem Jenseits der je gegenwärtigen Zeit" stammenden Forderungen der Gesetze auf der einen und den Unebenheiten der diesseitigen Leben auf der anderen Seite so, daß eine Balance zwischen beiden immer wieder herstellbar erscheint: etwa im Akt der Umkehr, am Versöhnungstag und auf andere Weisen, die nicht mit einem endgültigen Urteil verbunden sein müssen und trotzdem von dem ewigen Geltungsanspruch des Gesetzes nichts verkürzen. [20]
Die Apokalypsen scheinen einerseits aus diesem Unterschied einen Unterschied von Zeiten und Äonen zu machen und damit etwas einzuläuten, was die europäische Geschichte nie recht losgelassen hat: eine Delegierung moralischer Urteile an die Zeit. Man hat dem Marxismus vorgeworfen, er würde zu einer historischen Notwendigkeit erklären, was in Wirklichkeit eine politische Entscheidung bestimmter Menschen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten sei, und hat nach dem Ende des "realexistierenden Sozialismus" bereitwillig dieselbe Argumentationsfigur wieder aufgenommen, indem man von einem "Urteil der Geschichte" über den Marxismus sprach. Umgekehrt gibt es jede Menge Gemeinplätze über die sogenannte Zeitgebundenheit von Texten, über das "auf-der-Höhe-der-Zeit-sein", und über "Epochenkennzeichen", in denen eigentlich nur Aussagen darüber getroffen werden, was zu einer bestimmten Zeit und an bestimmten Orten dem Kenntnisstand, dem Geschmack und der Moral der Mehrheit oder der Eliten der Menschen entsprach.
Man könnte in diesen Reden bläßliche Wiedergänger der apokalyptischen Vorstellungen sehen, von ihrem Drang, eine ganze alte schlechte Zeit ein für allemal zu beenden und ein für allemal eine neue Zeit, frei von allen Verderbnissen und Verwirrungen, wie sie die Zeit vor ihrem Anbruch in wachsendem Maße kennzeichnen, anbrechen zu lassen.
Dem steht, jedenfalls für die intelligenteren Apokalypsen, andererseits das entgegen, was mich zuallererst auf die Müdigkeit als apokalyptische Grundhaltung aufmerksam gemacht hat:
V. Wachet
Wachet sagt man nicht zu Munteren. Man sagt es zu Müden, zu Schläfrigen, zu Schlafenden. Aber was sagt man, wenn man "wachet" sagt? Es ist der Weckruf, mit dem die Leser apokalyptischer Texte wieder in die Zeit zurückverwiesen werden. [21] Christliche Theologen streiten seit einigen Jahrzehnten um die Frage, ob es im Neuen Testament eine futurische oder eine präsentische Eschatologie gebe. In dem Moment, in dem keine konkreten Berechnungen angestellt werden, wann mit dem Weltende zu rechnen sein wird, ist die einfache futurische Vorstellung schon verlassen, und sobald die Apokalypsen selbst liturgisch werden, haben sie eine Funktion übernommen, die mit ihrem vermeintlichen Inhalt, wenn man ihn simpel temporal nimmt, ganz und gar nicht zusammenpassen. Sie haben nämlich ihr Bedeutungsgewicht von der Voraussage einer einfürallemaligen, die Welt verabschiedenden Gerichtsszene verlagert auf einen eigenen, das Gesetz wieder einsetzenden Gründungsakt. Das Endgericht ist dann in ihrem Funktionszusammenhang nur noch der Ersatz für die breitere Geltung der ethischen Forderungen der Apokalyptiker in ihrer Umgebung, eine zusätzlich stützende Autorität, nachdem die früheren Autoritäten weggebrochen sind, psychologisch ausgedrückt: ein phantasmatischer Ausgleich für die erfahrene Ungerechtigkeit der Welt und ein Ansporn zur Überwindung momentaner Beängstigungen. Dies jedenfalls wäre die (als paränetisch nur unzureichend charakterisierte) Funktion, die die Apokalypsen für ein breiteres Publikum haben könnten.
Für die Weisen, denen der Autor des 4. Esra den größeren Teil seiner Offenbarungen vorbehält, gilt eine andere Botschaft. Im 14. Kapitel (46f) gibt Esra an, 24 Bücher seien für alle, 70 für die Weisen, die auch schwierige Stellen zu deuten wüßten ohne an ihrer vor den weniger Weisen versteckt gehaltenen Botschaft zu verzweifeln. Für sie ist die tatsächliche Errungenschaft, die von der imaginären Reise zum Endgericht mitgebracht werden kann und dem alten Gesetz sowie dem Gebot der Treue zu ihm etwas Neues hinzugibt: Jeder einzelne Augenblick kann von jedem einzelnen Menschen gewonnen oder verloren werden in genau der Zeit, die er hat - und die er nur erkennen kann, wenn er auf etwas schaut, das nicht selbst Zeit und nicht bloß der je einzelne Augenblick ist. Erst der ganz strenge Blick des imaginierten einmaligen UND endgültigen Urteils erwirbt die Idee der Unvertretbarkeit nicht nur jedes einzelnen Menschen, sondern auch jedes einzelnen Augenblicks. In jedem Versuch, den Augenblick auf Kosten allen Denkens von Dauer zu retten, ist die Einsicht in seine Unvertretbarkeit ebenso verloren wie in allen Versuchen, durch formalisiertes Erfüllen fremder Gesetze den Erfordernissen eines Lebens in Augenblicken zu entgehen. Die aus der Weltmüdigkeit der Spätantike entstandene Vorstellung gar, es könnte ein Mensch für alle anderen ein für allemal die Erlösung erworben haben, hat es immerhin knapp 2000 Jahre dauern lassen, bis die Erkenntnis der Unvertretbarkeit des Einzelnen nicht nur vor seinem Ende, sondern schließlich vor allen elementaren Dingen des Lebens philosophisch wieder groß werden konnte in den Arbeiten von Heidegger, Rosenzweig und Levinas. [22]
Im 4. Esra ist die Reihe der Dinge, in denen niemand einen anderen vertreten kann, das sei nochmal erinnert: Kranksein/erkennen (man sollte die Zweideutigkeit der Überlieferung an dieser Stelle zur Erhaltung der durchaus sinnvollen Doppeldeutigkeit gebrauchen!), Schlafen, Essen, Sich Heilen Lassen. Das ist eine Reihe, die auch heute der eingehendsten Betrachtung standhält.
Dazu kommen Sätze wie "Heute den Heutigen, Einst den Einstigen" (8,46) oder die Antwort auf die Frage, wie und wann die Scheidung der Zeiten geschehen werde, die lautet: "Von Abraham bis Abraham. Denn von ihm stammen Jakob und Esau; die Hand Jakobs aber hielt am Anfang die Ferse Esaus. Die Ferse des ersten Äon ist Esau; die Hand des zweiten ist Jakob. Der Anfang des Menschen ist die Hand, sein Ende die Ferse. Zwischen Hand und Ferse, nichts weiter! - Das überlege, Esra!" (6,7-9).
Ich deute das so: es ist immer ein Mensch in einem einmaligen, nichtfürallemaligen Augenblick, der den Unterschied macht zwischen einem guten und einem bösen Äon, dem vom Unrecht müden und dem mit Recht frohlockenden Äon. Auf diese Weise ist der Zeit nach einem Ausblick in ihr mögliches Ende ihre Zeitlichkeit wiedergegeben, jeder einzelne Mensch seiner Zeit und vor allem: jedem einzelnen Menschen seine Zeiten. Und dennoch ist man damit nicht einfach wieder bei Kohelet, der in ermüdender Ergebung gesagt hatte: Alles hat seine Stunde, und es gibt eine Zeit für jegliche Sache unter der Sonne, eine Zeit für die Geburt und eine Zeit für das Sterben, eine Zeit zu pflanzen, eine Zeit, das Gepflanzte auszureißen usw." (3,1f). Nein, es gibt eine gegenüber der vorapokalyptischen Tradition neue Einsicht in das Verhältnis der moralischen Gesetze und der ihnen innewohnenden Verheißung zur Zeit. Auch wenn die Herstellung der totalen Gerechtigkeit in einem einfürallemaligen letzten Augenblick nicht wünschbar und keine wirkliche Ermunterung der an der Ungerechtigkeit Ermüdeten sein kann das Festhalten an bestimmten (nach Kant müßte man sagen: an den mit dem moralischen Gesetz übereinstimmenden) Satzungen ist das, was die Unterlegenen für die Zeit, die sie haben, überhaupt nur zu Personen macht, auch wenn das den mit der Gewißheit unschuldigster Einfürallemaligkeit von Augenblick zu Augenblick voranschreitenden Zeitläuften ganz gleichgültig ist.
Kant selbst läßt sich schließlich dazu hinreißen, das humorig doch wieder als ein historisches Urteil" der Apokalypsen zu formulieren; beginnend mit einem Zitat aus der Johannesapokalypse sagt er: "ªWer (nach diesem Begriffe) gut ist, der ist immerhin gut, und wer (ihm zuwider) böse ist, der ist immerhin böse´(Apokal.XXII,11); gleich als ob die Ewigkeit, und mit ihr das Ende aller Dinge, schon itzt eingetreten sein könne; - und gleichwohl sind seitdem immer neue Plane, unter welchen der neueste oft nur die Wiederherstellung eines alten war, auf die Bahn gebracht worden, und es wird auch an mehr letzten Entwürfen fernerhin nicht fehlen." [23]
Aber ich habe den Messias vergessen.
Über ihn soll Gott angesichts der Verzweiflung seines Volkes nach der Zerstörung des zweiten Tempels folgendes beschlossen haben: ´Ich werde ihnen einen Strahl der Hoffnung geben, der die Nacht ihrer Verbannung durchbrechen wird. Ich will ihnen Jemanden zusenden, dessen Angesicht auf immer verborgen, dessen Gegenwart jedoch zu allen Zeiten fühlbar sein soll; einen, der nie gekommen sein wird, dessen Ankunft aber allzeitig ist; einen, den sie unter den Aussätzigen der Tore Roms zu suchen kommen, der aber nur im Innersten ihrer Seele wohnhaft ist. Dieser Strahl der Hoffnung ist der Messias.ª [24]
[ ]
Das Buch von Gesine Palmer über Apokalytpische Müdigkeit.