Der Vergessene Protophänomenologe Anselm: Anselm von Canterburys‚ Ontologisches Argument' und die Methode der Realistischen Phänomenologie bon Edmund Husserl bis zur Gegenwart Josef Seifert (1)
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Im autobiographischen Bericht Anselm von Canterbury's über seine Entdeckung des ontologischen Arguments finden wir ein ausdrücklich phänomenologisches Element im Versuch, von den vielen Schlussketten, mit denen man Gottes Existenz zu beweisen sucht, wegzukommen und eine einfachere Urgegebenheit zu erschauen, wie wir den Text interpretieren dürfen, in der das notwendige Dasein und alle übrigen Wesenseigenschaften Gottes gründen: (2) ... daher fragte ich mich, ob nicht etwa ein Gedankengang aufzufinden sei, der außer seiner selbst keines weiteren Beweises bedürfe und so allein ausreichte, um Gottes Dasein klar zu machen, und daß Er das höchste, keines anderen bedürftige Gut sei, dessen aber alle bedürfen, um da und gut sein zu können, und was wir sonst vom göttlichen Sein glauben. (3) Im sogenannten ontologischen Gottesbeweis wird versucht, einfach vom göttlichen Wesen des "Etwas, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann" (id quo maius nihil cogitari possit) auszugehen und zu zeigen, daß reale und notwendige Existenz so wesenhaft zu Gott gehört, daß er bei tieferer Betrachtung auch nicht einmal als nicht seiend gedacht werden kann. Wenn sich auch der Kerngedanke des sogenannten ontologischen Arguments für das Dasein Gottes bis in die Antike zurückverfolgen läßt, (4) so wurde sein Grundgedanke doch erst viel später deutlich formuliert. Boëthius liegt das Argument schon gleichsam "auf der Zunge", (5) und doch war es erst Anselm von Canterbury, der es nach dem langem und von ihm lebhaft beschriebenen Ringen erstmals klar entdeckt hat. In diesem genialen Argument und in Anselms Vorgehensweise finden wir etwas Besonderes und zugleich zutiefst Phänomenologisches und Modernes gemessen an allen kosmologischen Gottesbeweisen. Worin besteht dieses Moderne und Phänomenologische? Erstens besticht an dem Argument das Moderne im Ausgehen von menschlichem Einsehen und Denken und nicht nur vom Glauben! Trotz Anselms Prinzips der fides quaerens intellectum wählt Anselm als Ausgangspunkt für sein Argument dennoch nicht den der Schrift entnommenen Namen Gottes Ich bin der Ich Bin, (6) sondern vielmehr die rein philosophisch anmutende Bezeichnung der göttlichen Wesenheit, die in ähnlicher Form bei Augustinus und in Platons Staat vorkommt: aliquid quo nihil maius cogitari possit oder aliquid quo melius (pulchrius) cogitari nequit. (7) Zweitens fällt eine geradezu cartesische und phänomenologische Modernität (die zugleich zutiefst augustinisch ist) (8) in diesem Argument auf: Es geht von einem reinen Gedanken bzw. Gegenstand des Denkens aus, nimmt einen bewußten intentionalen Akt zum Ausgangspunkt, dessen sublimsten Gegenstand es untersucht: "Etwas, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann". Drittens fasziniert der anselmische und zugleich phänomenologische (aber auch augustinische) Versuch, der geradezu den Kernpunkt einer realistischen Phänomenologie ausmacht, die sich damit scharf jeder subjektivistischen idealistischen entgegensetzt, (9) vom Cogito und der Analyse intentionaler Akte und des Bewußtseins her die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis zu entdecken. (10) Und damit kommen wir zu einem weiteren modernen Element, einem ‚negativen Test', wie Gabriel Marcel dies genannt hätte, zum Ansatzpunkt im Gegenteil des zu Beweisenden, im Atheismus zu sehen. Und zwar wählt Anselm den Atheismus nicht nur als zu widerlegenden Einwand, sondern als eigentlichen Ausgangspunkt des Beweises. Im Proslogion 2 argumentiert Anselm, daß wir die Wirklichkeit desjenigen Wesens, größer als das nichts gedacht werden kann, gerade dann einsehen, wenn wir uns in einen atheistischen Gedanken versetzen oder uns in einem Skeptizismus vorstellen, daß dieses Wesen vielleicht bloß in unserem Geist, also als reines Objekt unseres Denkens, existierte. Man bemerkt die Ähnlichkeit mit dem Cogito hier, in dem wir gerade aus dem radikalsten skeptischen Zweifel zur unbezweifelbaren Erkenntnis unserer Existenz und der Wahrheit gelangen. Wie soll dies aber auf den atheistischen Zweifel und Gott anwendbar sein? Können wir uns denn jemals noch aus diesem Strudel agnostischen oder atheistischen Subjektivismus befreien? Nach Anselm führt uns gerade das Erforschen unseres bewußten Seins und vor allem unseres höchsten Gedankens über uns selbst hinaus. Suchen wir uns nämlich das aliquid quo maius nihil cogitari potest als nur im Geiste seiend zu denken, so sehen wir sogleich ein, daß ein solches Wesen nicht mehr das wäre, größer als das nichts gedacht werden kann. Denn sobald wir es auch als real und unabhängig von unserem Denken seiend vorstellen, rühren wir denkend an etwas Größeres als an ein rein gedachtes Wesen, nämlich an eines, das sowohl in unserem Denken (in intellectu) als auch in re (in sich selber) wirklich ist. Daher müsse das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, in der Wirklichkeit und nicht bloß im Denken existieren, da es sonst nicht das wäre, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann In Kap. iii des Proslogion nimmt der Gedanke Anselms eine neue modal-ontologische Entwicklung. (11) Anselm betont dort, daß ein Wesen, dessen Nichtexistenz möglich ist, weniger vollkommen sei als ein Seiendes, dessen Nichtexistenz unmöglich ist. Daraus folgt aber auch, daß jeder, der meint, dieses Wesen könnte auch nicht existieren, das id quo maius cogitari nequit überhaupt nicht denkt, daß er die Washeit dieses Wesens nicht versteht, sondern es wie eine andere Natur behandelt, bei der es in der Tat sowohl sein kann, daß sie wirklich als auch, daß sie bloß möglich ist, wie dies eben bei der "vollkommensten Insel" gegeben ist, die gerade notwendige Existenz ausschließt und durch deren Vergleichung mit Gott der erste Kritiker des Arguments Gaunilo gerade bewies, daß er den Kern des anselmischen Beweises nicht verstanden hatte. Die Originalität dieses Arguments und seine Nähe zur Phänomenologie besteht viertens darin, daß hier das Dasein Gottes nicht auf dem Umweg über die Welt durch Syllogismen erkannt werden soll, sondern aus einer einfacheren Erkenntnis, und zwar einer Erkenntnis des notwendigen göttlichen Wesens, und mit diesem Ausgehen von einer notwendigen Wesenheit und notwendigen Wesensgesetzen sind wir schon im Kern der ursprünglichen Phänomenologie, im Bereich der Einsicht in in sich notwendige Wesenheiten und absolut notwendige Wesensgesetze, wie sie z.B. Adolf Reinach für das Wichtigste überhaupt gehalten hat. So unvollkommen auch nach Anselm unsere Erkenntnis der göttlichen Natur ist, so hält er sie dennoch für hinreichend, um einfach aus dem, was Gott ist (aus id ipsum quod Deus est), (12) erkennen zu können, daß Gott ist (quia Deus est). Ein derartiges Argument ist gewiß für das Dasein keines anderen Seienden möglich. (13) Vielen erscheint dieses Argument primitiv und mit vielen logischen Fehlern belastet. Andere, zu denen ich mich rechnen darf, halten es für den tiefsten philosophischen Gottesbeweis überhaupt. Allerdings macht das Argument notwendig vier grundlegende Voraussetzungen: 1) daß es nicht von einer subjektiven Idee, sondern einer objektiven Wesenheit ausgeht; daß 2) diese objektive göttliche Wesenheit unserem Geist in ihrer Notwendigkeit erkennbar ist; daß 3) notwendige Existenz im göttlichen Wesen Gründen kann, und daß 4) die objektive Wertvollkommenheit notwendiges Dasein einschließt. (14) Kehren wir zu den nur kurz gestreiften Gründen zurück, aus denen ein Phänomenologe an diesem Argument Gefallen finden kann. Mittelalterliche Gottesbeweise scheinen ja den Prinzipien der Phänomenologie mehr als allen anderen modernen philosophischen Richtungen zu widersprechen, vor allem jenem von Husserl als Urprinzip aller Prinzipien bezeichneten, das ein Ausgehen vom leibhaftig selbst Gegebenen, von den selbst gegebenen Sachen fordert. (15) Eben deshalb hätten es auch in der Tat fast alle Phänomenologen verworfen, (16) weil hier alle Basis im Erfahrbaren und Gegebenen verlassen werde, und ferner auch deshalb, weil die phänomenologische Methode der "Einklammerung der Realexistenz," um zur reinen Wesensforschung zu gelangen, niemals einen Übergang vom Wesen aus zur Existenz erlaube. Aus diesen beiden Gründen wurde das ontologische Argument nicht etwa nur vom späteren transzendental-subjektivistischen Husserl, sondern auch von den realistischen Phänomenologen verworfen, die annahmen, daß das Objekt der philosophischen Wesensforschung zwar von allem menschlichen Bewußtsein unabhängig sei, aber jeden direkten Übergang vom Wesen zum Sein ausschlossen. In der Tat muß die phänomenologische Methode radikal neu formuliert und durchdacht werden, um von der Analyse der "Sachen selbst" bis zur philosophischen Gotteserkenntnis aufzusteigen. Dazu muß, wie ich in Back to Things in Themselves zu erweisen suchte, nicht nur die Unabhängigkeit notwendiger Wesenheiten und Wesenssachverhalte von aller menschlichen Konstitution feststehen, sondern auch die Rückkehr zu den Sachen selbst zu einer Erkenntnis realer Existenz finden. Zu diesem Zweck muß die phänomenologische Methode von der Konstitutionslehre Husserls ebenso wie von einer generalisierenden Idee der Epoché befreit werden, um ein Zurück zur Wirklichkeit, wie diese jenseits und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein an sich besteht, zu ermöglichen. Das rigorose Zurück zu den Sachen darf dabei auch nicht dogmatisch das Absehen vom Grundcharakter des realen Seins, dem Esse, als Bedingung methodologischer Objektivität bezeichnen, noch darf der Erfahrungsbegriff so eingeengt werden, daß nur das unmittelbar hier und jetzt in der Zeit Anwesende als Phänomen gilt und alle ausschließlich spekulativ - im Spiegel anderer - gegebene Wesenheiten aus dem Reich des Gegebenen ausgeschlossen werden. (17) Zunächst scheint, wenn wir uns phänomenologisch rein an das selbst Gegebene halten, nur die Welt gegeben. Wir erfahren die Welt höchst unmittelbar - zunächst die unseren Sinnen zugängliche Welt, die wir sehen, tasten, hören und durch andere Quellen sinnlicher Anschauung mit einzigartiger Unmittelbarkeit erfahren. Die Welt unseres Bewußtseins und unseres eigenen Seins, wenn sie auch zunächst gegenüber der Welt sinnfälliger Gegenstände und anderer Personen gleichsam im Hintergrund des bewußten Lebens verbleibt, ist uns sogar mit noch größerer Unmittelbarkeit im Vollzug unseres bewußten Seins zugänglich als die sinnlich erfahrenen Gegenstände. Wir erkennen unser bewußtes Sein in einer zu unbezweifelbarer Erkenntnis führenden unmittelbaren Wirklichkeitsberührung, in der weder Gott noch die von uns erfahrenen realen Objekte unseres Bewußtseins zugänglich sind. Wir besitzen keine ähnlich unmittelbare Anschauung Gottes. All unser Erkennen aber beginnt mit der Erfahrung von innerweltlichen Seienden. Aus der Notwendigkeit menschlichen Denkens, bei der Welt anzusetzen, folgt aber nicht, daß die Welt die Frage: "Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?" beantworten könne, anstatt daß das göttliche Wesen und es allein diese Frage letztlich und von sich selbst her beantworte und deshalb in dieser Hinsicht viel intelligibler als die Welt, ja alleine intelligibel und von sich selbst her "verständlich" sei. Ganz im Gegenteil zeigt eine eingehendere philosophische Reflexion, daß das Sein der Welt, solange diese an und für sich betrachtet wird, durch und durch unverständlich und unbegründet ist, so sonnenklar diese Welt auch unseren Sinnen und unserer Erfahrung gegeben sein mag. Anschauliche Gegebenheit muß eben scharf von jener Intelligibilität und Verstehbarkeit von Sein unterschieden werden, die dieses eine Antwort auf die Frage geben läßt: "Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?" Auch der Phänomenologe Max Scheler betonte dies, als er von den erstevidenten Erkenntnissen sprach. Die Tatsache, die Max Scheler für die erste und unmittelbarste Evidenz hält, ist die, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. (18) Scheler gewann auch eine zweite Einsicht, die am Ausgangspunkt des ontologischen Gottesbeweises steht: Das einzige Sein, das durch sich selber voll intelligibel ist, das ist eben das ungeschaffene und ewige absolute "Sein schlechthin". Wenn es überhaupt etwas gibt, so können wir den Kern dieser Einsicht formulieren, dann muß es das notwendige, absolute Sein geben. Obwohl Scheler selbst den ontologischen Gottesbeweis ablehnt, geht diese Einsicht doch ganz in die Richtung des ontologischen Arguments und zeigt eine tiefe Beziehung zwischen Phänomenologie und diesem auf. (19) Eine phänomenologische Durchdringung dieses Beweises ist daher ein Beitrag zur Klärung der so verkannten ontologischen Möglichkeiten der phänomenologischen Methode, zu einer Erneuerung klassischer Metaphysik zu führen. (20) Sollte eine echte Evidentmachung der Wahrheit und Gültigkeit dieses Beweises, wie sie nur durch den stets erneuten Versuch eines philosophischen Rückgangs auf die sich von sich selbst her zeigenden Gegebenheiten und Wesensstrukturen (21) möglich sind, gelungen sein, so liegen deren Folgen für das Verständnis der Phänomenologie auf der Hand. Denn anstatt daß diese der Metaphysik feindlich gegenüberzustehen brauchte, würde sich eine Rückkehr zu den "sich selbst gebenden Sachen" gerade als fruchtbares methodisches Prinzip für Metaphysik, ja als unentbehrliche und letztgültige Methode eines wahren metaphysischen Denkens erweisen, das sich nicht in sachfernen Spekulationen oder Systemkonstruktionen ergeht, sondern durch die Erforschung des Gegebenen und des Wirklichen die Metaphysik vollends zu jener höchsten "Wissenschaft" vom Sein selbst macht, als welche sie Aristoteles bezeichnete und suchte. (22) Daß nach Anselm nicht die bloße Definition oder ein subjektiver Begriff von Gott genügen, um die Realexistenz Gottes zu erkennen, zeigt sich aus seinen wiederholten Äußerungen, daß ausschließlich die göttliche Wesenheit notwendige Existenz einschließt. Anselm wiederholt häufig, daß gerade ganz ausschließlich das göttliche Wesen in seinem Unterschied zu jedem anderen denkbaren Wesen, das göttliche Wesen ganz alleine, der Grund seiner notwendigen Existenz ist, was eine sinnlose Behauptung Anselms wäre, wenn er wirklich die Meinung gehegt hätte, die Kant und Brentano ihm zuschreiben, daß nämlich ein bloßer subjektiver Begriff eines notwendig existierenden Wesens genügte, um dessen Realerkenntnis zu begründen. Denn dann müßte ebenso aus dem Begriff einer notwendig existierenden Insel folgen, daß sie notwendig existiert, was Anselm eindeutig in seiner Antwort auf Gaunilo verwirft. Er betont sogar, daß es eben - ganz unabhängig vom hier verwendeten Begriff der notwendig seienden Insel, ja sogar gegen den Begriff der vollkommensten Insel! - im Wesen der Insel liegt, nicht-notwendig zu existieren, so daß gilt, daß kein reales Seiendes außer Gott notwendig existieren kann. (23) Anselm unterscheidet, wieder in phänomenologischer Art, zwei Arten von Denken (cogitare), ein am Wesen der Sache orientiertes und ein sachfernes. Das eine Denken beschreibt Anselm so, daß in ihm eine Sache (res) so gedacht wird, daß (nur) die vox eam significans cogitatur (daß nur das Wort, das die Sache bedeutet, gedacht wird). Da das Wort als solches gar nicht Objekt des Denkens ist, sondern nur seine Bedeutung bzw. sein Sinn, und da Anselm ausdrücklich auf die Bedeutung (significatio) des Wortes Bezug nimmt, kann man auch die erste Art des (sachfernen) Denkens so bezeichnen: in ihm wird nur die Bedeutung des Wortes und die Sache, wie sie in und durch diese Bedeutung gemeint und 'entworfen' wird, gedacht. Diese Interpretation wird auch dadurch bestätigt, daß Anselm in bezug auf dieses selbe Verstehen sagt, daß es kein echtes Verstehen (intelligere) sei, indem er hinzufügt, licet haec verba dicat in corde, aut sine ulla aut cum aliqua extranea significatione (wenn er auch diese Worte im Herzen spricht, sei es ohne jede, sei es mit irgendeiner fremden, 'äußerlichen' Bedeutung). Mit einer solchen 'fremden' (äußerlichen) Bedeutung nun ist wohl entweder eine begriffliche Bedeutung gemeint, die 'außerhalb des Wesens selbst' liegt, oder aber sogar eine, die vom Wesen abweicht und diesem entgegengesetzt ist. Im ersteren Fall handelt es sich um einen Erkenntnisakt, in dem eine begriffliche Bedeutung als solche verstanden wird, ohne daß die 'jenseits ihrer' (außerhalb der Bedeutung) liegende Sache verstanden würde; im letzteren Fall geht es um eine Bedeutung, die nicht nur als solche vom Wesen der Sache verschieden (diesem 'äußerlich': extranea) ist, was in bestimmtem Sinn für jede begriffliche auf ein Seiendes meinend hinzielende Bedeutung gilt, sondern die diesem Wesen auch 'fremd' ist, also mit den in ihr vereinigten Bedeutungsmomenten der Einheit des durch sie angezielten Wesens widerspricht. (24) Bei den von Anselm unter die erste Art von cogitatio gruppierten Akten geht es also um ein bloßes Verstehen von Wortbedeutungen, bei dem das eigentliche Wesen der Sache gar nicht verstanden wird. Davon unterscheidet Anselm eine zweite radikal verschiedene Art von Verstehen. Im zitierten Text verwendet Anselm das lateinische Wort intelligere (verstehen) überhaupt ausschließlich im Zusammenhang mit der zweiten Art des Verstehens. Dieses Verstehen liegt also vor, cum id ipsum quod res est intelligitur, d.h. wenn das selbst, was die Sache ist verstanden wird. Die zweite Art von sachnahem bzw. die Sache selbst erfassendem Verstehen nennt Anselm auch gut Verstehen (quod qui bene intelligit) oder noch deutlicher ein Verstehen, daß die Sache selbst so sei (intelligit id ipsum sic esse). Anselm bemerkt, daß Gott in dieser zweiten Weise nicht als nicht seiend gedacht (verstanden) werden kann. Denn niemand, der versteht, was Gott ist (Nullus quippe intelligens id quod deus est) kann denken, daß Gott nicht existiert (potest cogitare quia deus non est). Derjenige also, der das id quo nihil maius cogitari possit recht versteht, versteht auch, daß es solcherart ist, daß es auch nicht (einmal) im Denken nicht sein kann. (Quod si bene intelligit, utique intelligit id ipsum sic esse, ut nec cogitatione queat non esse). Also betrifft die 'Denkunmöglichkeit' erstens nur diese zweite Art wahren Wesensverständnisses, nicht die rein begriffliche Bedeutungserfassung des Namens 'Gott'; und zweitens ist das Nichtdenkenkönnen, daß Gott nicht existiert, nach Anselm kein rein psychologisches oder subjektiv-transzendentales, sondern ein ganz im objektiven intelligiblen metaphysischen göttlichen Wesen gegründetes, im metaphysischen sic esse Gottes fundiertes; nur weil Gott objektiv von seinem Wesen her nicht nicht-seiend sein kann, kann er auch im richtigen Denken, das von dieser ontologischen Notwendigkeit des wesenhaften Seins Gottes geprägt ist, nicht als nicht-seiend auch nur gedacht werden. Eine ontologische und metaphysische Notwendigkeit des göttlichen Wesens wird also von Anselm nicht wegen einer psychologischen Denknotwendigkeit behauptet, sondern umgekehrt: nur wegen der objektiven Seinsnotwendigkeit des Wesens der Sache selbst können wir auch das Nichtsein Gottes nicht denkend setzen. Die Seinsnotwendigkeit Gottes, die im unerfindbaren Wesen des id quo maius nihil cogitari possit gründet, geht also nicht nur der Denkunmöglichkeit seines Nichtseins voraus, sondern das Erfaßtwerden der objektiven ontologischen Wesensnotwendigkeit und Wesensunmöglichkeit allein ist der Grund für dieses Nichtdenkenkönnen des Daseins Gottes: Nur wenn die Wesensnotwendigkeit, kraft deren Gott notwendig ist, dem Geist einleuchtet; nur wenn dieser Geist id ipsum quod res est erfaßt, folgt daraus eine Gesetzlichkeit für das richtige Denken, das nun die einmal erkannte Notwendigkeit nicht mehr leugnen kann. Auch bei Descartes finden sich entsprechende Stellen, die genau dieselben Einsichten präzise formulieren. Zwischen diesem Gedankengang Anselms und der in den Prolegomena zu den Logischen Untersuchungen gebotenen Widerlegung der psychologistischen Deutung der obersten logischen Gesetze durch Husserl besteht eine bemerkenswerte Verwandtschaft. Ähnlich wie Husserl dort nachweist, daß keine Denknotwendigkeit als solche besteht, das Widerspruchsgesetz nicht zu verwerfen, bzw. nicht gleichzeitig zwei kontradiktorische Urteile für wahr zu halten, bemerkt auch Anselm, daß keine Denkunmöglichkeit besteht, die den Atheisten von der Verwerfung des Daseins Gottes abhalten könnte. Wie Husserl eine rein objektive Wesensnotwendigkeit für das logische Widerspruchsgesetz nachzuweisen sucht, das einen anderen Sinn hat als ein psychologisches Denkgesetz, und das besagt, daß eine objektive gesetzliche Unmöglichkeit besteht, daß zwei kontradiktorische Urteile zusammen wahr sein können, versucht auch Anselm, eine objektive gesetzliche Wesensunmöglichkeit des Nichtseins Gottes festzustellen. Wie Husserl annimmt, daß es demjenigen, der die objektive Wesensnotwendigkeit des Widerspruchsprinzips erfaßt, nur deshalb unmöglich ist, dieses in seinem Denken zu verwerfen, weil er eine objektive Wesensnotwendigkeit einsieht, nimmt auch Anselm an, daß nur derjenige das Sein Gottes nicht einmal in seinem Denken leugnen kann, der das objektive Wesen Gottes richtig versteht und dessen Urteil von der objektiven Wesensnotwendigkeit der Sachen selbst (vom id ipsum quod res est) geformt ist. Auch nach Anselm ist es also, so dürfen wir interpretieren, die innere ontologische Wahrheit der göttlichen Wesenheit, die das Nichtsein Gottes verbietet; und nur das Erfassen dieser seinsmäßigen und wesensmäßigen Notwendigkeit selbst macht das denkend-erkennende diesem Wesen Widersprechen unmöglich, daß Gott so wahrhaft ist, daß er nicht einmal im Denken als nicht-seiend gedacht werden kann: utique sic vere est, ut nec cogitari possit non esse. Damit läßt sich aber Anselms Argument in seinem tieferen Sinn, wenn man von vielen unklaren Äußerungen Anselms absieht, von keinem Argument treffen, das sich gegen ein ganz andersartiges Argument richtet, welches rein aus einem Begriff oder einer Idee auf die Wirklichkeit des absoluten Seins schlösse. (25) Letzten Endes, obwohl wir die Gedankengänge des ontologischen Arguments in unzählige polysyllogistische Schlußketten fassen können, handelt es sich beim ontologischen Argument um einen einfachen Gedanken, um eine Einsicht in ein Urphänomen, ja in das Urphänomen aller Urphänomene, Gott. (26) So können wir alles Gesagte in die grandiose Formel zusammenfassen, in die Bonaventura das ontologische Argument gekleidet hat: So groß ist die Wahrheit des göttlichen Seins, daß dieses mit Zustimmung gar nicht als nicht-seiend gedacht werden kann, es sei denn wegen eines Mangels seitens des Verstehenden, der nicht erkennt, was Gott ist. (27) |
Notes (1) Vortragstext für den 20. Weltkongress für Philosophie 1998. (2) Zu einer ausführlicheren Diskussion dieses Gegenstands vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996); ders., "Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes. Reflexionen über das ontologische Argument" in Theologia (Athen 1985), 3-30. Vgl. auch den interessanten Artikel Steven W. Laycock, "The Phenomenologist's Anselm," in: Analecta Husserliana XLIII (1994), 293-305. Dort werden das Ausschalten aller sachfremder Momente, die Konzentration Anselms auf das "God-phenomenon" und andere Momente treffend hervorgehoven, aber die Notwendigkeit der unten skizzierten Neufassung der phänomenologischen Methode kaum beachtet. (3) Siehe Anselm von Canterbury, Proslogion, Proömium, in Anselm von Canterbury, Werke, hrsg. R. Allers, S. 351-352. Vgl. auch S. Anselmi opera omnia, Bd. I, S. 93. Siehe gleichfalls G. R. Evans, Anselm and Talking about God, S. 42 ff.; und Eadmero di Canterbury, Vita di Sant'Anselmo, Kap. 26, S. 58 ff. (4) Vgl. Platon, Phaidros 245 c 5 ff., Platon, Politeia II, 381 b 4; 381 c 8-9. Eine wichtige, praktisch nie beachtete Quelle des ontologischen Arguments findet sich in Platons Phaidon und Phaidros: Platon, Phaidon, 106 b ff., 106 d 5-8, d 7-8. Vgl. auch Aristoteles, Metaphysik 12.1072 b 29-31. Vgl. auch Seneca, Naturalium quaestionum, Proömium, 13. (5) Vgl. Thomas von Aquin, in boethii de consol. philos, l. 3 c. 19. (6) Man denke an Philon von Alexandrien, Etienne Gilson und Edith Stein. Vgl. etwa Roberto Radice (Ed.), Filone. Tutti i trattati del commentario allegorico alla Bibbia, Presentazione Giovanni Reale (Milano:Rusconi, 1994), S. 449 ff.; Etienne Gilson, Being and Some Philosophers, 2nd ed. (Toronto: University of Toronto Press, 1952); Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein, Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986). (7) Anselm, Quid ad hoc respondeat editor ipsius libelli, 9; Anselm, Monologion, 15; Thomas von Aquin, in boethii de consol. philos, l. 3, c. 1, 9 ff. (8) Vgl. dazu Ludger Hölscher, The Reality of the Mind. St. Augustine's Arguments for the Human Soul as Spiritual Substance (London: Routledge and Kegan Paul, 1986). (9) Vgl. etwa Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London: Routledge, 1987), oder meine "Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls Cartesianischen Meditationen. Die Äquivokationen im Ausdruck 'transzendentales Ego' an der Basis jedes transzendentalen Idealismus." Salzbuger Jahrbuch für Philosophie XIV, 1970. (10) Vgl. Dietrich von Hildebrand, "Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt. Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen Hildebrands: 'Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis'", Aletheia 6/1993-1994 (1994), 2- 27. Vgl. auch meine Bücher: Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis (Salzburg: A. Pustet, 21976); Back to Things in Themselves, cit; Sein und Wesen (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996). (11) Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen Arguments (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996), Kap. 12. (12) Adolf Reinach, - "Über Phänomenologie", in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550. Vgl. auch Adolf Reinach, "Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes", in: Reinach, Adolf, Sämtliche Werke. Texkritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917); hrsg.v. Karl Schuhmann Barry Smith (München und Wien: Philosophia Verlag, 1989), 141-278. (13) Eigene Übersetzung. Ebd., Kap. 3, S. 103, 6-9:
(14) Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis, cit. (15) Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, ed. Karl Schuhmann. Husserliana, vol. III/1; 1. Buch, text of 1.-3. edn, 1. Buch, 1. Abschnitt:
(16) Husserl selbst, Adolf Reinach, Dietrich von Hildebrand, aber auch Edith Stein, in Endliches und Ewiges Sein, S. 106-107, verwarfen den ontologischen Gottesbeweis. Von allen bisherigen Phänomenologen kommt zweifellos Max Scheler einer Verteidigung des ontologischen Arguments am nächsten. Vgl. seinen Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 298, verwirft das Argument jedoch auch dort (ebd., S. 298). Auf dem Boden der von uns in Back to Things in Themselves, Kap. 1-2, kritisierten Verhaftetheit der Husserlschen phänomenologischen Methode in gewissen Momenten der unklaren und vieldeutigen Idee der Epoché ist das verständlich. Vgl. auch Max Scheler, "Absolutsphäre und Realsetzung der Gottesidee", bes. S. 183 ff., S. 187. Nur Alexandre Koyré unter den Phänomenologen stand dem Argument zumindest nahe. Vgl. Alexandre Koyré, L'Idee de Dieu dans la philosophie de S. Anselme (Paris, 1923). In jüngerer Zeit fand das ontologische Argument auch außer meinem Gott als Gottesbeweis bei anderen Phänomenologen eine positive Rezeption; vgl. etwa Rogelio Rovira, La fuga del no ser (Madrid: Encuentro, 1991). (17) Siehe dazu mein Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London: Routledge, 1987), Kap. 1-2. (18) Siehe Max Scheler, "Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens", S. 93-94. (19) In meinem Beitrag zum Schelerkongress in Jena 1997, der in den Akten erscheinen soll, versuchte ich, dies näher zu begründen. (20) Ohne Martin Heideggers Phänomenologie nahezustehen, so ist doch seine Bestimmung des Sinnes von "Phänomenen" als des "sich von sich selbst her Zeigenden" in § 7 von Sein und Zeit eine der besten je gegebenen Bestimmungen des Sinnes von "Phänomen" als Grundbegriff der Phänomenologie. (21) Diejenigen methodologischen Momente, die eine Erkenntnis jeglicher menschlichen Subjektivität transzendenter notwendiger Wesenstrukturen der Dinge an sich erlaubt, haben schon die Münchener und Göttinger Phänomenologen, insbesondere Reinach und Hildebrand, herausgearbeitet. Vgl. Adolf Reinach "Über Phänomenologie", S. 531-550; Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 4. Diejenigen Momente der phänomenologischen Methode hingegen, die nicht nur eine Metaphysik der Wesenheiten, sondern auch eine der Existenz ermöglichen, habe ich durch die kritische Betrachtung der Rolle und der Grenzen der Methode der Epoché und durch eine Abgrenzung ihrer vielen Bedeutungen, sowie durch eine Analyse von Wesen und Existenz zu leisten versucht. Vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 1-2; ders., "Essence and Existence. A New Foundation of Classical Metaphysics on the Basis of 'Phenomenological Realism,' and a Critical Investigation of 'Existentialist Thomism'". Erweiterte Fassung: Sein und Wesen, cit. (22) Vgl. Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Vgl. auch Dietrich von Hildebrand, Metaphysik der Gemeinschaft. Untersuchungen über Wesen und Wert der Gemsinschaft, 3., vom Verf. durchgesehene Aufl., Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke IV (Regensburg: J. Habbel, 1975). Vgl. auch J. Seifert, Essere e persona, Sein und Wesen, Gott als Gottesbeweis. (23) Proslogion, Kap. iii. (24) Anselm erwähnt in Kapitel iv des Proslogion noch die Möglichkeit, daß das Wort Gott völlig gedankenlos ausgesprochen wird: sine ulla significatione. (25) Vgl. Descartes, Meditationen V, 5. (26) Vgl. zur Logik des ontologischen Arguments mein Gott als Gottesbeweis, cit. Kap. 12. (27) Bonaventura, Sent., Lib. I, d. VIII, P. I, Art. I, Q. 2. |