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Metaphysics

Emmanuel Lévinas: Die Würdigung des Metaphyschen als Pädagogishce Aufgabe

Susanne Möbuß

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ZUSAMMENFASSUNG: In seinem Hauptwerk Totalité et Infini entwirft Emmanuel Lévinas eine doppelte Sichtweise der Philosophie: als ‘autonom’ und als ‘heteronom.’ Während der erste Typus einer allzu einseitigen Betonung des Egozentrismus des philosophierenden Individuums entspringt, stellt der zweite Typus das Ziel von Lévinas’ argumentativen Bemühungen dar. Im Gegensatz zur Philosophie im Zustand der Autonomie, die nicht dazu bereit ist, die Fremdartigkeit des Anderen gelten zu lassen und diese skrupellos dem eigenen Welt-Denken subsumiert, läßt die Philosophie in der Zustandsweise der Heteronomie den Anderen als den Freien bestehen und unterwirft sich dessen Andersartigkeit im bewußten Verzicht auf die eigene Souveränität. Vor diesem Hintergrund sieht Lévinas die Aufgabe der Philosophie darin, den Menschen über den falschen Anspruch seines individuellen Verlangens aufzuklären und die Alternative zue Erlangung einer umfassenden Gerechtigkeit zu weisen.

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In den zahlreichen Werken, die Emmanuel Lévinas zwischen 1947 und 1982 verfaßte und publizierte, bemühte er sich um die Überwindung einer egozentrischen Philosophie — um die Würdigung des Metaphysischen. Überwindung und Würdigung, Abkehr und Wiedereinsetzung, Bewegungen eines suchenden Denkens, die nicht nur die Funktionsbestimmung der Philosophie verdeutlichen, sondern darüber hinaus die Selbstbegründung des Ich charakterisieren. Im Rahmen der Funktionsbestimmung unterscheidet Lévinas zwei Zustandsweisen der Philosophie, die beide von einer — allerdings absolut konträren — Bewertung der Bedeutung des philosophierenden Subjekts gekennzeichnet werden: Autonomie und Heteronomie. Die philosophische Autonomie basiert auf der unbezweifelbaren Annahme eines Subjekts, das sich als autonomes, d.h. hier: freies und identisches Selbst begreift. Als identisches ist es nicht deshalb anzusehen, so betont Lévinas, weil es sich stets als dasselbe erweist, sondern weil es sich als dasjenige Seiende zeigt, dessen existieren darin besteht, sich zu identifizieren. Setzt dieser permanent fortzusetzende Prozeß des Identifizierens aber eine notwendige Erschütterung und Gefährdung der je momenthaften Selbstheit voraus, so resultiert diese aus einem Sein, das sich zu derselben Zeit und in derselben umfassenden Raumstruktur wie das Ich situiert. Dieses Sein ist das Sein der Welt. Die Welt schafft ununterbrochen Situationen, die vom Ich Reaktionen fordern; es muß sich in einer ihm wesentlich fremden Umwelt als Ich behaupten und damit als identisch setzen. In diesem Verständnis ist das identische Selbst ausschließlich relational zu denken, da es sich nur in Beziehung zur Welt beweisen kann.

Wenn es bis hierher auch so aussehen mag, als stellte die Fremdartigkeit alles dessen, was nicht zum Individuum zu zählen ist, ausschließlich dessen Bedrohung dar, weist Lévinas doch sogleich darauf hin, daß der Mensch über eine Möglichkeit verfügt, Fremdartigkeit in Heimat zu verwandeln. Das Ich kann in der Welt verweilen, es kann sie zum Ort seinen Aufenthalts erklären, es kann in-der-Welt-bei-sich-zu-Hause-sein, indem es sich identifiziert, kurz: indem es kann. Können heißt frei sein im Hinblick auf eine fremde Realität; können heißt besitzen-können dessen, was das Ich bedroht. In der Welt ist das Ich bei-sich-zu-Hause, wenn sie sich der Inbesitznahme durch das Ich nicht verweigert. Natürlich vermag ein Akt des Besitzergreifens, in dem z.B. ein beliebiger Gegenstand zu einem meinen Interessen entsprechenden Gebrauchsgegenstand wird, oder in dem ein Nahrungsmittel Mittel meiner Ernährung wird, den grundsätzlichen Abstand zwischen dem Ich und der Welt in ihrer Andersartigkeit nicht zu leugnen, wohl aber momenthaft zu überwinden. In diesen Momenten realisiert das Ich sein Vermögen — es transformiert die absolute auf eine bloß formale Andersheit.

Eine formale Differenz liegt für Lévinas dann vor, wenn das Andere für das Selbst Thema und Objekt seiner Erkenntnis wird. Wird dadurch die absolute Andersartigkeit des Seienden in der Welt auf eine formale Differenz reduziert, so wird nun auch diese noch eingeschränkt, insofern Erkenntnis darin besteht, das erkannte Objekt nicht als singuläres, spezielles, sondern als allgemeines, einem allgemeinen Begriff zu subsumierendes, aufzufassen. Hierin besteht somit wesentlich ein Akt der Unterwerfung, denn Erkenntnis ist immer ein Prozeß der Reduktion des Anderen auf das Selbe, der Verselbigung des Verschiedenen im identischen Ich. Dieses Ich muß als frei in bezug auf die Entfaltung seiner Vermögen betrachtet werden, da es kein Fremdes gibt, das deren Aktualisierung dauerhaft Widerstand leisten könnte. Für Lévinas besteht nicht der mindeste Zweifel daran, daß diese Freiheit nicht aus dem Können des Ich, sondern ausschließlich aus der Tatsache der nicht erfolgten Behinderung resultiert und dadurch Freiheit aus mangelndem Widerstand ist.

Eine Philosophie, die sich der Definition des in diesem Sinne freien Selbst verschreibt, ist die Philosophie in der Zustandsweise der Autonomie. So wie das Ich in den Besitz von Welt gelangen kann, ist diese Philosophie stets im Besitz von Wahrheit, denn diese entsteht nicht, sie muß sich nicht erweisen, sondern sie liegt als das immerwährende "schon-bekannt" des identischen Selbst allem Fragen zugrunde. Philosophie dient so verstanden nicht mehr der Suche nach der Wahrheit, sondern lediglich ihrer Darstellung. Da diese singulär und keinesfalls relational ist, insofern sie alles Seiende, zu dem eine Beziehung herzustellen wäre, im Auftrag des Ich vereinnahmt, widersetzt sie sich der Annahme eines sich offenbarenden Gottes und negiert dessen Anwesenheit sogar ohne jede Einschränkung. Freiheit der Gottlosigkeit als Alleinherrschaft des Ich: gegen dieses Verständnis setzt Lévinas das Ideal der Philosophie in der Zustandsweise der Heteronomie. Deren Aufgabe besteht nicht im Darstellen, sondern im Erreichen der Wahrheit; Wahrheit als End- und Zielpunkt einer gerichteten Bewegung, die niemals zu ihren Ausgangsort zurückkehren wird. Das Wahre, das durch eine solche Bewegung aufgesucht werden kann, liegt nicht als identischer Grund im Wesen des Ich beschlossen, es ist auch nicht allein in der Fremdartigkeit der Welt und ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit des Seienden verborgen, es ist wohl in diesem anwesend, aber seine Anwesenheit offenbart sich auch noch über das Fremde hinaus, indem es das Fremde transzendiert.

Es wäre falsch zu sagen, daß die Wahrheit aus dem Transzendenten heraus erscheint, denn sie ist selbst das Transzendente. Als solches kann sie nicht mittels rationaler Operationen ermittelt werden, sie ist ausschließlich erfahrbar. Erfahrung ist für Lévinas Überschreitung des identischen Selbst, das nicht aus der ruhigen Gewißheit des schon-bekannten heraus die Weltergreifung vornimmt. Erfahrung entspringt aus der Beziehung zwischen Ich und Welt, die die Annahme der absoluten Andersartigkeit der Welt fordert. So zeugt es eigentlich noch von jenem besitzergreifenden Gestus des Ich, wenn hier von einem 'zwischen' gesprochen wird, insofern dieser Ausdruck eine Gemeinsamkeit von Ich und Welt heraufbeschwört, die tatsächlich in keiner Weise angenommen werden darf. Erfahrung resultiert mithin nicht aus einem Vermögen des Ich, sie folgt keinem Können. Sie übertrifft alles individuelle Können, konfrontiert es mit einem ganz Anderen, das als absolut Anderes zu denken ist. Dieses absolut Andere ist nicht, es erscheint, ist als Erscheinendes Grund der Erfahrung, ist als Erfahrenes Quelle der Wahrheit.

In Wahrheit ist es das Göttliche. Wenngleich Lévinas so oft wie nur irgend möglich vermeidet, von Gott zu sprechen, ist das Göttliche doch speziell in diesem Kontext ohne weiteres denkbar. Denn während Gott das Wesen ist, dem Transzendenz als Bestimmung zugewiesen werden müßte, was als intellektuelle Leistung wiederum nur vom identischen Ich ausgehen könnte, bezeichnet das Göttliche das Transzendente selbst, es offenbart sich nicht aus der Transzendenz heraus, sondern ist mit ihr geeint.

In der Frage nach dem Göttlichen besteht das Bestreben der Metaphysik. Dieses Bestreben ist Ereignis, denn in dieser Form eines Geschehens bleibt dasjenige Seiende, mit dem und an dem sich das Ereignis vollzieht, nicht unverändert, da es nicht selbst Initiator und identisches Agens ist. In diesem Sinne wirkt das Seiende, mit dem sich etwas ereignet, eher passiv, dem unmanipulierbaren Geschehen ausgeliefert, ergriffen und bedroht. Gleichwohl muß auch als dieses Seiende das Ich angenommen werden, das sich jedoch in diesem Kontext völlig anders darstellt, als im Licht einer autonomen Philosophie. Dennoch darf auf gar keinen Fall verkannt werden, daß sich auch das Ich unter der Sichtweise der heteronomen Philosophie trotz seiner vermeintlichen Passivität in Bewegung befindet, wodurch das Passive keine Kennzeichnung der Bewegung, sondern lediglich der Bewegungs-Initiierung darstellt. Während das autonome Ich aus eigenem Antrieb das Fremde zu neutralisieren und seinem erkennenden Zugriff unterzuordnen wußte, wird das heteronome Ich von eben demselben Fremden dazu veranlaßt, sich zu ihm zu verhalten und das heißt nichts anderes als: nach dem absolut Anderen zu streben, in dem sich das Fremde transzendiert.

Während also die Bewegung des autonomen Ich als zirkulär zu denken ist, da sie ihren Ausgang von demselben Selbst nimmt, in das sie auch nach vollzogener Aneignung des Anderen zurückkehrt, zeigt sich die Bewegung des heteronomen Ich als linear, daher als unendlich, da sie in keinem Punkt ihrer Fortsetzung als vollendet gelten kann. Ihr Ziel ist das Unendliche. Am Beispiel zweier mythisch/religiöser Gestalten versucht Lévinas, diese Differenz der Bewegungsformen zu verdeutlichen: Odysseus, der tragische Held der griechischen Mythologie, trägt während seiner Irrfahrten in seinem Gedächtnis stets das Bild der Heimatinsel, zu der er zurückzukehren trachtet. Keine Bedrohung durch das Fremde und keine Verzögerung seiner Heimkehr kann dieses Bild trüben und die Beendigung seiner Fahrt dauerhaft verhindern. Abraham als die vorbildliche Gestalt des Alten Testaments gibt jeglichen Anspruch auf Heimat, Recht und Geborgenheit auf und tritt eine Wanderung in eine vollkommen unbestimmte Ferne an. Sein Weg wird niemals zu seinem Ausgangsort zurückfinden, sein Zielort ist das Ungewisse, das er im Unendlichen zu finden weiß. Dennoch ist nicht nur das Heimweh des Odysseus als Begehren nach der endgültigen und glücklichen Rückkehr zu verstehen; auch der Auszug des Abraham aus seiner Heimat folgt einem Begehren — ja dieses ist sogar die eigentliche, die metaphysische Form des Begehrens. Für Odysseus implizierte es das Bewußtsein des Verlorenen, für Abraham die Erwartung des absolut Anderen, die auf keiner vorgängigen Sicherheit, Verwandtschaft oder Beheimatung gründet. Wie das Beispiel des Abraham gezeigt hat, wird sein Begehren niemals befriedigt werden, die Erfüllung liegt jenseits des Möglichen.

Im Gegensatz dazu wird es durch jeden Augenblick der Unerfülltheit stets erneut intensiviert, denn jeder zeitliche Aufschub bedeutet nicht nur eine vorübergehende Enttäuschung, sondern eröffnet daneben die Dimension der Unendlichkeit. Ein Mensch, der immer wieder enttäuscht wird, täuscht sich schließlich nicht mehr über den wahren Charakter seines Begehrens; er erkennt, daß das Begehren selbst der absolute Wert aller strebenden Bewegung ist. In diesem Sinne bezeichnet Lévinas es als absolut, da das Begehrende sterblich, das Begehrte aber unsichtbar und damit unvergänglich ist.

Das Begehren ist folglich jene Bewegung, die im Stolz der enttäuschten Erwartung das Ich empfänglich für das Absolute werden läßt. Dieses Absolute kann auch als das "Hohe" bezeichnet werden, das jedoch nicht mit dem Himmel zu identifizieren ist, wie Lévinas ausdrücklich betont, sondern mit dem Unsichtbaren. Die metaphysische Bewegung, die sich auf das Hohe richtet, obwohl sie dieses niemals wird erreichen können, transzendiert das Begehren im Absoluten. Trotz der Tatsache der Unerfüllbarkeit muß dieses Begehren in einer Beziehung zum Ich gedacht werden, die allerdings dem üblichen Verständnis einer Beziehung zuwiderläuft, insofern dieses ein Gemeinsames voraussetzt, in dem beide Relationspartner übereinkommen können. Ein solches Gemeinsames als zumindest partielle übereinstimmung und damit Voraussetzung möglicher Vergleichbarkeit kann z.B. als jenes "Wir" aufgefaßt werden, in dem das "Ich" und das "Du" verbunden werden können, indem die Beziehung vom "Ich" zum "Du" wesenhaft nicht von jener vom "Du" zum "Ich" zu unterscheiden ist. Ein gemeinsamer Begriff vermag das Differente ebenso zu einen, wie eine gemeinsame Zahl oder ein gemeinsamer Besitz. Wird allerdings das Bestehen eines derartigen verbindenden Elementes strikt geleugnet, resultiert daraus zunächst die Unumkehrbarkeit dieser Korrelation. Für den vorliegenden Kontext bedeutet das: Die Beziehung vom "Ich" zum "Du" läßt sich nicht umkehren, denn ist das "Du" das Fremde, so ist allein der Fremde der Freie. Die Annahme der Freiheit für das Ich hatte Lévinas bereits im Zusammenhang mit der Widerlegung der autonomen Philosophie und ihres Subjektes definitiv zurückgewiesen. Weder kann das Ich mit einem Gegenüber eine umkehrbare Beziehung eingehen, noch ist diese dem Metaphysiker mit dem Objekt seines Begehrens möglich — beide bilden kein Ganzes in der Gemeinsamkeit.

Damit steht Lévinas vor einer nicht unproblematischen Situation: einerseits soll nach wie vor das Ich Ausgangspunkt jeglicher Beziehung sein, doch andererseits kann es in keiner Weise eine tatsächliche Beziehung zu einem wie auch immer gearteten Anderen eingehen, da Ich und Anderes absolut inkompatibel sind. Wie ist also diese Beziehung beschaffen und wie begegnen sich die Wesen innerhalb ihres Geltungsbereiches?

Will man vermeiden, den Charakter der Beziehung unter Hinweis auf die Tatsache zu beschreiben, daß sie als bloße Vorstellung einer Relation zu denken ist, die keine faktische Gemeinsamkeit voraussetzt, ist dem zu entgegnen, daß gerade die Vorstellung das am wenigsten geeignete Mittel zur Lösung des anstehenden Problems darstellt. Denn für Lévinas verbirgt sich hinter diesem Begriff jener cognitive Akt, durch den der Verstand des Individuums das Andere seiner eigenartigen Fremdheit beraubt und es seiner Identität subsumiert. Die metaphysische Beziehung ist die Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen, wobei es von nun an völlig eindeutig feststeht, daß dieses Andere der Andere ist. Da der Andere sich permanent der neutralisierenden Macht des Ich entzieht, wahrt er seinen von Anfang an bestehenden Abstand, seine Distanz, seine Transzendenz.

Das Selbe und das Andere sind Termini, de keinem gemeinsamen genus angehören und die, und dieser Ausdruck ist für Lévinas von entscheidender Bedeutung, keine Totalität bilden. Wenn dies aber tatsächlich so zu sehen ist, dann kann auch keine Operation des Verstandes angenommen werden, die diese beiden in ihrer Beziehung beziehungslosen Termini synthetisieren und als einheitliches Objekt dem Denken integrieren kann. Gleichwohl will Lévinas damit nicht die grundsätzliche Bedeutung des Denkens in Frage stellen, sondern lediglich darauf aufmerksam machen, daß das Ich nicht als eine zufällige Bildung vorzustellen ist, dank derer der Selbe und der Andere sich in einem Denken widerspiegeln können. Es bedarf eines Denkens und es bedarf eines Ich, damit sich die Andersheit im Sein ereignen kann. Das Selbe und das Andere bilden folglich die beiden durch einen unendlichen Abstand voneinander getrennten Manifestationen eines Seins, das als Ereignis, als Geschehen und Vollzug darstellbar geworden ist. Diesen unendlichen Abstand gilt es permanent zu durchlaufen, was nicht mit seiner Aufhebung gleichzusetzen ist. Eine solche Bewegung kann immer nur vom Ich ausgehen, ohne zum Ich zurückzukehren. Bewegung setzt aber schon wieder eine minimale Gemeinsamkeit voraus, und wenn diese auch nur darin besteht, daß der Andere durch die Bewegung des Ich erreicht, erfahren werden kann. Wie ist also eine derartige Beziehung und unendliche Gemeinsamkeit in Distanz zu verstehen, wie spielt sie sich ab?

Vor allem muß das Denken in seiner ursprünglichen Funktionsvielfalt begrenzt, mit einem einzigen Akt identifiziert werden. Denn es war gerade das Denken, das durch seine synoptischen Operationen beständig darauf abzielte, eine Totalität auf der Grundlage der metaphysischen Beziehung zu setzen, die nicht vorhanden sein kann. Der Akt, mit dem das Denken gleichgesetzt wird, ist der Akt der Rede. Allein in der Rede kann der Abstand zwischen dem Selben und dem Anderen gewahrt werden, wodurch an jener radikalen Trennung festgehalten werden kann, welche sich in der Transzendenz ereignet. So ist die Rede bereits als Kritik am Denken zu verstehen, das immer von neuem die Totalität einrichten will; darüber hinaus ist sie der einzige Akt, der nicht erst die Transzendenz ermittelt, sondern voraussetzt, sich überhaupt nur in der Gewißheit der Transzendenz zutragen kann. Natürlich muß derjenige, der das erste Wort innerhalb dieser Rede spricht, nach wie vor das Ich sein, wodurch sofort die Gefahr entsteht, hier wiederum einen Prozeß des Übergreifens des Selben auf das Andere zu befürchten. Wenngleich beide keine Totalität bilden und die Einsetzung der Gemeinsamkeit für das Denken verweigern, sind sie doch insofern aufeinander verwiesen, als sie beide Teilnehmer im Ereignis der Rede sind. Das bedeutet für das Ich, auf sein Recht zu verzichten, die Fremdartigkeit des Anderen zu verselbigen, womit es dann dem Anderen das Recht einräumt, ihm zu widerstehen. Der Andere ist damit keinesfalls länger Objekt des Denkens, sondern der in seiner Transzendenz Angesprochene. Diese Reduktion des Denkens setzt den Anderen als jenes Gegenüber ein, das die Selbstgewißheit des Ich radikal bedrohen kann und muß, insofern es sich nicht durch einen umfassenden Begriff ent-eignen läßt. Wenn Lévinas in diesem gesamten Kontext die Beziehung zwischen Selbem und Anderem mit Ausdrücken wie bewahren, Recht und Transzendenz zu umschreiben sucht, macht er zugleich deutlich, daß diese Beziehung nicht mehr als Erkenntnisprozeß gelten kann, sondern sich statt dessen als Relation innerhalb eines ethisch definierbaren Zusammenhanges erweist. Hier geht es um den freiwilligen Verzicht auf ein Recht, das das Ich nach wie vor für sich in Anspruch nehmen könnte, ja sogar noch mehr: ein bloßer Verzicht könnte dieses Recht aussetzen, so daß niemand von ihm Gebrauch machen könnte. Statt dessen überträgt das Ich dieses Recht, Ursprung zu sein, dem Anderen. Es verzichtet, überträgt und liefert sich dadurch den Forderungen des Anderen ohne jeden Rückhalt aus, denn von nun integriert das Ich das Fremde nicht mehr seinem Denken, sondern läßt sich durch die Anwesenheit des Fremden zu einer Stellungnahme auffordern, die sich in jedem Fall nur gegen sich selbst richten kann. Das Ich bezieht Stellung für den Anderen, es verhält sich zum Anderen im Sinne der Ethik. Vor diesem Hintergrund wird es möglich, sich dem Metaphysik-Begriff des Emmanuel Lévinas zu nähern. Da er einen so krassen Unterschied zwischen Denken und Rede aufgezeigt und dabei das Denken als jenes cognitive Vermögen bezeichnet hatte, das dem egozentrischen Streben des Ich ständig zur Realisierung verhalf, kann die Metaphysik keinesfalls als ein bloßes System des Denkens definiert werden. Dieses Denken ist auch niemals mit der Form des Begehrens vereinbar, die als metaphysisch benannt worden war, insofern das Denken immer auf das Ergreifen seines Objektes und damit eine Erfüllung seiner Verselbigungstendenz abzielt. Ist also die Metaphysik gerade als Kritik an einem rationalen System dieses Kontextes zu verstehen, so identifiziert Lévinas als ein derartiges System die Ontologie, deren wesentliche Leistung seiner Auffassung nach im Verstehen-Können bestand. Verstehen ist für Lévinas nichts anderes als jener übergreifende Akt, kraft dessen das Andere seiner Fremdheit beraubt wird, also gerade jenes unbedingt zu überwindende Verhalten eines besitzergreifenden Ich, das eines wirklichen Verhältnisses zu seinem Gegenüber vollkommen unfähig ist. Verstehen setzt aber auch die Annahme eines gemeinsamen Dritten voraus, das das Selbe und das Andere verbindet, in dem das Andere abdankt, weil es beherrschbar geworden ist. Dieses Dritte ist als neutraler Terminus zu verstehen, der ein gedachter Begriff oder eine Empfindung ebenso sein kann, wie die Setzung eines umfassenden Seins. Die Ontologie, die sich des Verstehens mittels des Allgemeinen bedient, ist also das Paradigma der autonomen Philosopie.

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