Homo Mensura-Philosophie: Analepse gegen Paralipse La Mettrie und die griechische Medizinphilosophie (iatros philosophos isotheos) Martin Rudolph
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In der europäischen Philosophie gibt es seit der Zeit der alten Griechen 2 Richtungen (Seiten , Schulen , Parteien, Traditionen ) : die theologische und die (medizinisch-) anthropologische - Platon und Demokrit. In dem Satz iatros philosophos isotheos / "ein philosophischer Arzt ist gottgleich" (corpus Hippocraticum) ist die theologische Seite zugunsten der anthropologischen aufgehoben ; isotheos heißt , dass man einen Gott nicht braucht . Klassisch hat dies Demokrit ausgedrückt : "Gesundheit erbitten für sich die Menschen in Gebeten von den Göttern ; dass sie aber die Macht über sie in sich selbst haben , wissen sie nicht ." (234) (Paideia : Sie müssen es lernen . ) Genau dasselbe bedeutet 2000 Jahre später das Motto des Philosophenarztes Paracelsus : Alterius non sit , qui suus esse potest . / "Eines anderen (Sklave) sei nicht , wer sein eigener (Herr) sein kann ." Das Stichwort für diese Richtung ist HOMO MENSURA (Maß m, Maßstab , Metrum , Dimension ) . [Im Bereich der anthropologischen Philosophie ist "Eklektizismus" ein gegenstandsloser Vorwurf . Im Gegensatz zum göttlichen Übermaß ist menschliches Maß nachweisbar ; wer in welchem Zusammenhang den Nachweis führt , ist nebensächlich . Es geht um die Sache , nicht um Personen . Es geht um Philosophie , nicht um Philosophiegeschichte .] Homo mensura (individuell und kollektiv) bedeutet , dass "sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten müssen" . Kants vielgerühmter "Kopernikus" ist von Anfang an Grundlage der anthropologischen Philosophie . Das Maß ist das menschliche Gehirn , von La Mettrie "Maschine" genannt . (Ein 6./7./... Sinn ergäbe eine andere Welt , eine 4./5./... Dimension.) Epiktet : "Nicht die Dinge beeinflussen die Menschen , sondern die Vorstellung von den Dingen." Was uner"meß"lich ist , ist dem Menschen nicht zugänglich , so z.B. die Götter . "Ich kann weder wissen , dass es Götter gibt , noch , dass es keine gibt ." (Protagoras , der Autor des homo-mensura-Satzes ). Kants Theologie ("Ich musste also das Wissen aufheben , um zum Glauben Platz zu bekommen.") verstößt gegen die eigene Erkenntnistheorie . "Falls es keinen Gott gibt , ist alles erlaubt." (Voltaire , Kolakowski) ist ein unzulässiger Satz . Homo-mensura-Philosophie (ein Thukydideischer "Besitz für immer") ist analeptisch (aufnehmend , nicht filternd ; griech. analambanein) , nicht paraliptisch (beiseitelassend , ausklammernd , filternd ; griech. paraleipein ) . Der Paraliptiker will z.B. nichts über den Holokaust wissen - also weiß er nichts (der Analeptiker umgekehrt) . Kants "vernünfteln" ist paraliptisch . Demokrit analeptisch : "Nach dem Nomos gibt es Farbe , Süßes , Bitteres ; in Wirklichkeit aber Atome und Leeres." "Auf alles vorbereitet sein" : so verstanden die Kyniker Philosophie . Der Kosmopolit hat das Motto : homo sum ; humani nil a me alienum puto (Menander , Terenz) / "ich bin ein Mensch; nichts Menschliches ist mir fremd , so glaube ich." (Grundlage der Goldenen Regel) . Naturalia non sunt turpia / "Natürliches ist nicht schamlos." / "Wegen natürlicher Dinge braucht man sich nicht zu schämen." - ein Kynikersatz , bei dem theologische Moral rot sieht. "Natur des Menschen" /Demokrit, Thukydides , Hippokrates) ist das Stichwort (und Reizwort) für das Maß der steuerbaren menschlichen Gehirnmaschine . Natur ist offen, nicht abgeschlossen ; relativ , nicht absolut . Es gilt Goethes Satz :"Vernunft wird Unsinn , Wohltat Plage." Es gibt insbesondere kein absolutes heiliges Recht (Pyrrhon von Elis gegen Kant) . Recht ist Nomos (Brauch , Sitte , Meinung ) im Gegensatz zur Freiheit der Physis (Regula Aurea , Menschenrechte) . PLUS / MEHR (medizinisch : Nebenwirkungen) ist das entscheidende Kennzeichen der Menschennatur . Metren und Dimensionen sind nicht begrenzbar ; polymechanos (viele Möglichkeiten) und polytropos (viele Wendungen) kennzeichnen die Plus-Maschine . Die Natur macht Vorschläge , keine Vorschriften . Auch La Mettrie würde dem Satz zustimmen : l`homme plus que machine . Der Mensch muß sich GEGEN den Nomos wenden , wenn Goldene Regel und Menschenrechte gelten sollen . Wieder ist Epiktets kopernikanische Wende zu nennen : Unsere Vorstellung (Dogma , Phantasia , Hypolepsis) schafft und verändert die Welt . Die Vorstellung (Maß , Maschine) liegt in unserer Hand (griech. eph hemin) . Die Vorstellung über den Tod kann man ändern ; der Tod selbst liegt nicht in unserer Hand - er betrifft uns nicht (ho thanatos uden pros hemas). Mit Lust und Schmerz , Freude und Trauer (Sieg und Niederlage , Tugend und Schuld) hat die im Gehirn lokalisierte Evolutionsnatur ein gewaltiges überlebensnotwendiges Gefühlspotential geschaffen . Psychosomatische Abwehr - und Fluchtmechanismen sichern das Überleben (Schmerz , Schwindel , Ekel , Übelkeit ; Angst , Schuld , Gewissen , Reue , Scham ; Daimonion ) . Doch diese Mechanismen sind keine zuverlässigen Indikatoren : Es gibt Schmerz mit Ursache , Schmerz ohne Ursache und Ursache ohne Schmerz . Wie Phantomschmerz , so gibt es auch Phantomschuld . Abwehrmechanismen sind offene Anlagen, die mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden können (Dynamis - Energeia ) . Die Wirklichkeit von Scham und Schuld ist nomosbedingt , also relativ . "Andere Religionen - andere Schuldgefühle." (La Mettrie) . Alle Ereignisse werden vom Gehirn als Sieg oder Niederlage / Schuld bewertet ; auch Ereignisse , die nicht in unserer Hand liegen ("Ach , mein Herr Jesu , ich hab dies verschuldet, was du erduldet."). Tugend ist als Wissen lehr- und lernbar (Sokrates) . Befreiung von Angst und Schuld ist Aufgabe der Philosophie (Epikur) . Man kann lernen, nicht zu den Siegern zu gehören und trotzdem glücklich zu sein . Siege sind überlebensnotwendig , aber nicht lebensnotwendig (humanes Leben gegen Evolutionsleben). Klassisch hat dies Lucan ausgedrückt : Victrix causa deis placuit , sed victa Catoni . /"die siegreiche Sache hat den Göttern gefallen , aber die besiegte/ unterlegene/ verlorene dem Cato (Uticensis)" . Niederlagen sind menschlich , doch sie werden von Siegern als Kränkungen empfunden (Kopernikus , Darwin , Freud, ...). Doch Kränkungen sind nach Epiktet nur Vorstellungen , die man ändern kann , da sie in unserer Hand liegen . Die Sprache ist ein Schlüssel zur Natur des Menschen (zum Maß , zur Maschine , zum Gehirn) : Die Sprache bietet ein ausgebildetes Formen- und Syntax-System nicht nur für den Indikativ , sondern ebenso für den Konjunktiv / Optativ . Der Konjunktiv ist der Modus der Dynamis , der Indikativ der Modus der Energeia . Dynamis heißt Phantasie , Vorstellung / Hypolepsis, Fiktion, Projektion, Imagination, Virtualität, Hirngespinst /Chimäre, kurz : Freiheit . (Erstaunlicherweise sieht Kant bei seiner Philosophie des "Als ob" keinen Zusammenhang zu der von ihm verbotenen Lüge.) Die Dynamis entwickelt "Energie" (Epiktet): Medizinisch ist das Placebo , theologisch das Gebet , allgemein das Symbol zu nennen . Die Steigerungsmöglichkeiten der Sprache (Komparativ , Superlativ) bilden einen weiteren "Konjunktiv" (Dynamis). Es ist ein Kinderspiel , vom Besten, Schönsten, Größten zu träumen, vom Absoluten, vom Heiligen , von der Idee . Gesteigert wird diese Ekstase , diese Mania , dieser Enthusiasmus von den körpereigenen Drogen des Gehirns (Kant : " ... muß auf das Gemüt bis zur Begeisterung wirken.") . Die Dynamis steht in der Verfügung des Menschen , die Energeia nur bedingt (das Maß ist offen , relativ zur Stärke der Natur) . Gerade der Arztphilosoph weiß , dass tödliche Krankheiten (die Pest bei Thukydides) nicht in der Verfügung des Menschen stehen . Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) träumt heute noch den inhumanen Traum von der Gesundheit als dem vollkommenen physischen , psychischen und sozialen Wohlbefinden (danach sind wir alle krank) . Ein mathematischer Punkt existiert nur in den Köpfen der Mathematiker ; Grenzwert und Unendlichkeit in der Mathematik haben mit Gott nichts zu tun. Im Konjunktiv kann man den anderen Menschen ("den Nächsten") als Über- oder Untermenschen sehen . Doch ärztliche Diagnose zeigt , dass der andere grundsätzlich der gleiche ist wie man selbst . Aus dieser Diagnose folgt die Therapie der Goldenen Regel : "Laß dem anderen die Freiheit , die du selbst für dich forderst." Aus den Sein folgt kein logisches , wohl aber ein humanes Sollen . Homo mensura setzt ein Grundmaß für Menschenrechte - die Toleranzfreiheit . Die Identität der Menschen besteht nicht in ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe (jede Gruppe hat ihren eigenen Nomos, ihr eigenes Recht - right or wrong , my country ) , sondern darin, dass sie Menschen sind . Ein Mensch kann sein Gesicht nicht verlieren , da jedes mögliche Gesicht das Gesicht eines Menschen ist . Klonen ist mit der Menschenwürde vereinbar . Die Heimat des Kosmopoliten ist die Welt . Den humanen Begriff der Heimat hat der Philosoph und Staatspräsident Václav Havel in überzeugender Weise entwickelt . Die Welt als Heimat entsteht dadurch , dass man im Fremden das Eigene erkennt (Analepse statt der üblichen Paralipse) . Zwangsläufig folgt hieraus auch eine Neubestimmung der Strafe . (Kant ist ein konsequenter Vertreter der Todesstrafe.) Der willkürliche Gruppennomos ist keine menschenrechtliche Grundlage für Strafe . Der andere bin ich selbst. Alterius non sit , qui suus esse potest . Die übliche Strafe der Staatsräson ist ein Relikt der Steinzeit , die im Straftäter den Feind sieht . Wieder zeigt die Sprache als "Maschinenschlüssel" das inhumane Maß unserer Evolutionsnatur : Wie das Immunsystem stellt die Sprache sogar geringste Normabweichungen als fremd und feindlich fest ("deine Sprache verrät dich.") . Die Sprache ist ein intolerantes Freund-Feind-Erkennungssystem . Da der Mensch aufgrund seiner Evolutionsnatur der geborene Paraliptiker ist , fiel es theologischen Philosophen nicht schwer , die anthropologische Philosophie mit Verachtung zu strafen . Eine einseitige Epikur-Interpretation gab den erwünschten Anlaß , sich mit Abscheu von dieser Philosophie abzuwenden . Nur die "Fußnoten zu Platon" wurden als Philosophie anerkannt . Mit Platons Machtwort "deus mensura" war Protagoras` homo mensura erledigt . (Noch in unserem Jahrhundert trug das humanistische Gymnasium mit seiner einseitig abwertenden Sophisten-Interpretation zur Alleinherrschaft Platons bei.) La Mettrie wurde ein Opfer der Paralipse der anthropologischen Philosophie . So gut wie nichts ist wirklich neu in seiner Philosophie , vergleicht man sie mit der medizinisch-anthropologischen Tradition . Dies gilt grundsätzlich auch für seinen Atheismus , seinen Hedonismus und seine Ablehnung der Schuldgefühle . Doch selbst Voltaire und Diderot erschien eine homo-mensura- oder iatros-philosophos-isotheos-Philosophie abstoßend und gefährlich . La Mettrie erneuerte eine abgerissene Tradition zur "falschen" Zeit . La Mettries Materialismus und "Darwinismus" (100 Jahre vor Darwin ; fließender Übergang Pflanze-Tier-Mensch) sind eine zeitgemäß konsequente Fortsetzung der homo-mensura-Philosophie . Selbst der ironisch provozierende Cartesische "Maschinen"-Titel verliert bei der Lektüre schnell seinen Schrecken : es ist eine "aufgeklärte Maschine" , die sich nicht definieren lässt und unendlich viele Möglichkeiten bietet : die Maschine ist das Gehirn . Wenn ein Arzt wie La Mettrie als Forschungsmethode Beobachtung/ Experiment/ Erfahrung/ Vernunft nennt, mag dies einem Wissenschaftstheoretiker naiv erscheinen. Doch naturwissenschaftlich-medizinische Forschung war sich schon immer ohne explizite Wissenschaftstheorie aller Fallstricke , Sackgassen, Verführungen, Rätsel, Labyrinthe, Unmöglichkeiten bewusst . Der Ursprung der Dinge, die Natur der Materie, kurz : die Wahrheit sind für La Mettrie geheimnisvoll, unbegreiflich, unerreichbar .Einer nichtparaliptischen Medizin war jeder Aufklärungsoptimismus immer fremd . Thukydides`Peloponnesischer Krieg als Beispiel für die Natur des Menschen war ein ärztlicher Besitz für immer . In der Ethik steht bei La Mettrie die Goldene Regel als Regel der Toleranzfreiheit im Vordergrund . (Kant lehnt die Goldene Regel entschieden ab , da ihr - im Gegensatz zum Kategorischen Imperativ - die Gleichheit der Allgemeinheit fehlt.) Der Hinweis auf die Goldene Regel in der Bergpredigt (Matthäus 7,12) erscheint nur für Nicht-La Mettrie-Kenner unpassend (Feindesliebe) . Gewissen und Schuldgefühle sind alteingeschliffene Vorurteile . Genau wie der Schmerz sind sie keine zuverlässigen Indikatoren für Fehlverhalten . Henker und Krieger haben keine Schuldgefühle . Zusammenfassend schreibt La Mettrie (Fayard I 375, 27/29; deutsch Laska) : "Ich habe (im Hinblick auf meinen Tod) weder Furcht noch Hoffnung, denn ich trage keine Spuren meiner frühen Erziehung mehr in mir . Jene Ansammlungen von Vorurteilen, die sozusagen mit der Muttermilch eingesogen werden, haben sich unter dem göttlichen Einfluß der Philosophie rechtzeitig aufgelöst . Die empfindliche , weiche Substanz , in der der Stempel der falschen Meinung so leicht seinen Eindruck hinterlässt, ist bei mir heute glatt und völlig frei von den Prägungen der Kindheit und Jugend . Ich habe die Stärke gehabt, zu vergessen , was ich aus Schwäche gelernt hatte . Welch ein Glück ! All das ist nun weg , ausgelöscht , ausgerottet mit Stumpf und Stiel ! Ein großartiger Erfolg des Denkens und der Philosophie ! Nur mit ihrer Hilfe war es möglich , das Unkraut zu jäten und an seiner Stelle gutes Korn zu säen." "Ich habe in der Geschichte keinen einzigen Atheisten gefunden , der sich nicht um seine Mitmenschen und um sein Vaterland verdient gemacht hätte . Was seine Menschlichkeit betrifft , dieses angeborene Mitgefühl , durch das jenes Gesetz im Herzen verankert ist , so wird er human ,friedfertig , anständig ,freundlich ,großzügig , hilfsbereit sein . Er wird eine wahrhaft große Seele haben , wird , mit einem Wort , die Eigenschaften des anständigen Menschen mit allen sozialen Tugenden in sich vereinen." "Ich denke nicht nur , dass eine Gesellschaft philosophischer Atheisten sehr gut , ich meine sogar, dass sie besser funktionieren würde als eine Gesellschaft von Frommen, ... ." |