from Vol. #7, Issue 1: Spring 2016
Ein Auszug aus Endlich Stille
von Karl-Heinz Ott
Gerne wäre ich zu Marie geflüchtet, die diesen Menschen mit einem einzigen kurzen Auftritt aus der Stadt vertrieben hätte. Doch selbst der Mond mit seinem zerdellten Gesicht wollte mich, so kam es mir in dieser Nacht vor, aus der Ferne mit seiner Fratze verhöhnen und mir verkünden, jetzt sei auch ich – wie in der Einsamkeit des Alls – auf mich alleine zurückgeworfen.
Friedrich brunzte in hohem Bogen übers Geländer, drückend und stöhnend, als sollte es nie aufhören. Bei aller Wut, die sich gegen ihn angestaut hatte, bei aller Gier, ihn auf der Stelle auszulöschen, war er, so mußte ich mir in diesem Augenblick gleichzeitig vergegenwärtigen, ein Hinterbänkler geblieben, der die Schulzeit noch nicht verabschiedet und dem keiner beigebracht hatte, daß es Grenzen gibt. Als er seine Hose aufknöpfte, versuchte ich ihn mir als Pianisten vorzustellen, der im Konzertsaal auf dem Podium thront und feinsinnig das Geflecht einer Sonate auslotet, aber dieses Bild wollte sich mit dem, der da von der Brücke pisst, nicht überlappen. Zunehmend argwöhnte ich, daß seine Schubert-Exkurse antrainiert sind und er sich seit langem bei Leuten durchschlägt, denen er zufällig begegnet, seine Geschichten auftischt, wobei er sich als Durchreisenden gibt, doch nur darauf sinnt, sich bei jemanden einzunisten. Vielleicht war er nie in dem lothringischen Dorf gewesen, dessen Verlassenheit er mir eindrücklich geschildert hatte, oder er hatte sich dort tatsächlich aufgehalten, jedoch nicht als ein Einsiedler, sondern als ein Gast, der sich – wie mir – einer zielstrebig anvisierten Zufallsbekanntschaft aufgedrängt hatte. Vielleicht zog er seit langem nomadisch umher, lebte hier und dort, ließ sich aushalten, gab unterschiedlichste Herkunftsgeschichten zum besten, ging mit seiner Musikerlegende und bunt zusammengewürfelten Kenntnissen hausieren, die von Schubert über Sternbilder bis zu seltenen australischen Tierarten und etwelchen Ritualen afrikanischer Stämme reichten, ohne daß einem dieser Mensch je greifbar geworden wäre. Vielleicht präsentierten er die Geschichte mit der Wandererfantasie jedem, den er damit glaubte beeindrucken zu können, vielleicht machte er sich bei jedem mit dem mönchischen Plan interessant, auf den Berg Athos ziehen zu wollen, und vielleicht erzählte er jedem von der Afrikanerin, mit der er nach Kamerun auszuwandern gedenkt.
Hätte Friedrich sich nicht so eloquent über Schuberts musikalische Abgründe oder über Alphornmotive bei Brahms und Bruckner auslassen können, hielte ich es für eine Fabel, daß er überhaupt Klavier spielen kann. Beim Gang über den Markt blieb er einmal vor einem Plastik-Elch stehen, der zu einem blechernen Samba, der aus seinem Schädel dröhnte, grotesk das Geweih und das Maul bewegte. Vier-, fünfmal drückte Friedrich, wenn das Stück vorbei war, nochmals den Knopf auf seiner Stirn, um erneut mitzugrölen und dabei einen zappelnden Gitarristen zu mimen. Ich stand daneben, lächelte verlegen und drängte ihn zum Weitergehen, aber je mehr Kinder sich um uns scharten, desto wilder gebärdete Friedrich sich, wobei es mir vorkam, als würden uns die Leute für Obdachlose halten, die mit ordentlicher Kleidung ihren jämmerlichen Zustand kaschieren.
Letztlich war es jedoch unwichtig, ob Friedrich die Wahrheit erzählte oder an Legenden strickte. Ich wollte nur endlich wieder allein sein. Ich hätte nicht ans Telefon gehen dürfen in dieser Nacht, dachte ich ständig und verfluchte Marie, weil sie schuld daran war, aber dieser Groll half nicht weiter, schließlich hätte Friedrich jederzeit vor meiner Tür stehen können. Doch nachdem es schließlich soweit gekommen war, sollte er möglichst wenig über mich erfahren, denn wie sich bei der nächtlichen Begegnung mit Grandstetter herausgestellt hatte, konnte er alles, was er über mich wusste, gegen mich verwenden, mich damit kompromittieren und in Geschichten verwickeln, die mich meinen Ruf und meine Stellung kosten können.
»Du zitterst ja«, gab Friedrich sich besorgt, als er mich in den Arm nahm, nachdem er sein Glied wieder in die Hose gesteckt hatte. »Laß das!« wehrte ich mich, worauf er, ohne jeden Zusammenhang, in psalmodierendem Tonfall deklamierte: »Die Wege Gottes sind krumm, und kühn ist der Mensch, der ihnen nicht folgt.« Er dirigierte sich selbst mit mächtigem Schwung und fing an, auf den Rhein hinab zu predigen, wobei er wissen wollte, ob ich Mahlers Fischpredigt kenne, doch ohne eine Antwort abzuwarten, begann er mit seiner sonoren, durch Suff und Nikotin aufgerauten Stimme, alle Strophen durchzusingen, was sich ohne Orchesterbegleitung anhörte, als schwanke er über einem Abgrund. Nachtschwärmer zogen kopfschüttelnd oder ihn parodierend an uns vorbei, was er gar nicht bemerkte, ebensowenig wie das Zorngeschrei eines Mannes, der von einem dunklen Fenster herab nach Ruhe rief, während Friedrich, als sei die Brücke seine Kanzel, übers Wasser hinweg das Gleichnis von all den Hechten, Aalen, Karpfen und Krebsen verkündete, die mit offenen Mündern Antonius lauschen, um nach der Predigt wieder ihrer Wege zu gehen und alles beim alten zu lassen. Es war zum Weglaufen und anrührend zugleich, wie Friedrich gestikulierend am Geländer stand und diese Verse sang. Während dieses Auftritts war ich wieder davon überzeugt, daß nichts von dem, was er mir in Straßburg erzählt hatte, erfunden sein konnte.
»Jeder Montagmorgen an einem Dienstag in der Musikhochschule ist ein Verbrechen«, quatschte er beim Weitergehen vor sich hin, und ich war froh, daß er auf solche Sätze nie eine Reaktion erwartete. Auf derlei Sprüche mußte man bei ihm jederzeit gefaßt sein, ohne daß klar wurde, ob sie komisch gemeint sind oder von schierem Irrsinn zeugen. Sie kamen wie aus dem Nichts und führten auch nirgends hin. »Wo ein Weg ist, ist auch ein Rand«, hatte er einmal bemerkt, und obwohl Friedrich damit offensichtlich gar nicht auf Gelächter aus war, fühlte ich mich bemüßigt zu kichern. Innerlich bestrafte ich mich jedesmal für eine solche Untertänigkeit, als offenbare sie zutiefst, wie erbärmlich ich mich vor ihm erniedrige.
Es mochten lächerliche Verfolgungsanwandlungen sein, doch seit dem Zusammenstoß auf der Brücke wurde ich den Gedanken nicht los, Grandstetter werde mich jetzt, obwohl nur noch ein Jahr in Amt und Würden, moralisch vernichten. An meinem Lebenswandel war bislang nichts auszusetzen gewesen, weil ich mit keinerlei Exzessen, weder mit erotomanen Tendenzen wie mein Kollege Lüthi noch mit alkoholischer Labilität wie Kollege Fichtner aufgefallen wäre. Auch wenn Grandstetters Rigorismus eher ihn selbst dem Spott aussetzen würde, als daß er damit andere in Verruf bringen, geschweige denn einen Skandal auslösen könnte, wollte ich mich nicht Vorwürfen ausgesetzt sehen, die zwar kaum zu leugnen waren, aber auf Ereignisse zurückverwiesen, die einer Erklärung bedürften.
Als wir nach Hause kamen, knipste Friedrich den Fernseher an, den er zwei Tage nach seiner Ankunft aus meinem neuerlichen Schlafzimmer in die Küche transportiert hatte, um schon morgens bei abgedrehtem Ton die Bilder flimmern zu lassen. Es fing gerade Immer Ärger mit Harry an, Hitchcocks Indian-Summer-Idyll mit seinen herbstlich glühenden Laubwäldern, mit Vogelgezwitscher als Klangkulisse, mit einem kleinstädtischen Flecken inmitten einer sanften Hügellandschaft, in der so friedlich, als sei er ein Teil der Natur, ein Toter liegt, der von einer Handvoll Unschuldiger für ihr Opfer gehalten wird. Sie graben ihn ein und graben ihn aus, ein halbes Dutzend Male, während sie zwischendurch Blaubeerkuchen essen und sich gegenseitig amouröse Avancen machen. Alles endet, wie es beginnt, mit Amselrufen unter einem Septemberhimmel, der das Land wie ein kleines Arkadien erscheinen läßt.
Betrunken, aber selig, müde und doch durch den Film wieder wachgerüttelt, saßen wir auf der Eckbank nebeneinander, und obwohl ich Friedrich wegen des Vorfalls auf der Brücke immer noch hätte ins Gesicht schlagen und am liebsten Professor Grandstetter mitten in der Nacht anrufen wollen, um mich ihm zu erklären, schmunzelten wir über Hitchcocks Figuren, kicherten und blickten uns an, als gäbe es nichts Schöneres, als in meiner Küche vor dem Fernseher zu sitzen. Erst beim Abspann fing in mir wieder die Wut zu rumoren an, aber vermutlich hatte Friedrich auf der Brücke sogar geglaubt, mir mit seinen Unverschämtheiten einen Gefallen zu tun. Immerhin war ich in der Bodega über Grandstetter und seine Gattin maßlos hergezogen, ohne damals ahnen zu können, daß Friedrich sich zwei Wochen später zu meinem Rächer machen würde.
Wie immer schmerzte am nächsten Morgen mein Kopf und beim Blick in den Spiegel starrte mir ein Gesicht entgegen, das ich hätte anspucken mögen. Mitten im glühenden Sommer war es aufgedunsen, schwammig, gelblichbleich, und es blickten glasige Augen aus ihm, die sich selbst nicht anschauen wollten. Und wieder schleppte ich mich widerwillig durch den Tag, von einer bis dahin nie gekannten Müdigkeit niedergedrückt, in der Erwartung, daß es bald wieder Nacht werden und der Schlaf mich für ein paar Stunden all das vergessen lassen möge. Vom Badfenster aus beobachtete ich den fetten Rentner im Overall, der vor seiner Tür auf der Straße stand, die Passanten musterte und dem einen und andern mit einem angedeuteten Kopfschütteln nachstarrte. Täglich sehe ich ihn, wie er den Papiercontainer nach Zeitungen und Schriftstücken durchwühlt, sie überfliegt und entweder in den Müll zurückwirft oder in seine Hosentaschen steckt. Von Anfang an war mir diese Gestalt zuwider und noch nie hatten wir uns gegrüßt, weder er mich noch ich ihn, doch inzwischen drängte es mich, ihm zu erklären, daß ich nicht für meine neue Bekanntschaft verantwortlich bin, mit der man mich täglich in die Stadt hinabgehen sehen kann.
Ich war froh, daß meine Putzfrau Urlaub hatte, obwohl es im Bad schlimmer als auf manchen Bahnhofstoiletten aussah. Im Spülbecken stapelten sich Tassen und Töpfe, aus denen Schimmel wuchs, in den Blumentöpfen steckten Kippen, die wie erbärmliche Trophäen wirkten, und der Rauchgestank wäre selbst bei tagelangem Durchzug nicht zu vertreiben gewesen. Stumm und still vermittelte dieser Mensch einem jedoch das Gefühl, man würde sich, wiese man ihn zurecht, wie eine Mimose aufführen. Angesichts der Kleiderberge, die Friedrich über die ganze Wohnung verteilt hatte, widerstrebte es mir, ihm auch noch seine Hemden und Unterhosen hinterherzutragen oder sie gar zu waschen. An der Klowand klebten noch die Spritzer von vor Tagen, als ich mich nach dem Aufwachen übergeben mußte und mir nicht mehr zusammenreimen konnte, wie wir nach Hause gekommen waren. Nach solchen Gedächtnisausfällen, die sich zu häufen begannen, fürchtete ich, Dinge ausgeplaudert zu haben, die er wieder gegen mich einsetzen könnte. Aber ich wollte mich nicht auch noch durch Nachfragen vor ihm bloßstellen, sondern hoffte inständig, daß mein gelegentlicher Redefluß, der immer erst nach Mitternacht einzusetzen begann, von konstanter Belanglosigkeit geprägt war. Mit meinen Monologen wollte ich mich vor meinem eigenen Verschwinden retten und vorführen, daß ich da bin, daß ich etwas zu sagen habe, daß ich lebe. Worum es sich handelte, war vollkommen gleichgültig, ich wollte mich nur hören und vor dem Wegdämmern schützen. Kaum daß wir im Krümmen Turm saßen, trank ich sogar schneller als Friedrich, dessen Maßlosigkeit mir in Straßburg einst Eindruck gemacht hatte. Inzwischen war ich es, der den Kellner nach der zweiten, dritten, und vierten Flasche rief, während Friedrich mir in aller Ruhe ansah, wie ich den Kopf in die Hände stützte und zu lallen anfing. Wie um aus meiner tagsüber gewahrten Zurückhaltung mit einem Schlag auszubrechen, brach nachts manchmal ein Redeschwall aus mir heraus, der mit mir selbst wenig zu tun haben schien, aber strikt seinen Lauf nahm. Immerhin löste dieses deliriende Gerede für eine Weile meine Anspannung, schließlich kostete das angestrengte Schweigen mehr Kraft als alles andere. Ich schwadronierte dann über das Leben im allgemeinen, über die westliche und die arabische Welt, über Krieg und Terror, die Globalisierung und den Koran, über den Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz, über Zürcher und Basler, über Aargauer und Appenzeller, über Biersorten und Weinsorten, über Gedichte von Gottfried Benn und Theaterstücke, die ich mir mit Marie angeschaut hatte, und nicht selten vergaloppierte ich mich in philosophischen Niederungen, wobei ich mich eines Nachts stundenlang über den unendlichen Unterschied zwischen Ethik und Moral ausließ, was außer mir aber offensichtlich keinen interessierte. Meist schämte ich mich nicht erst am nächsten Morgen, sondern noch während des Redens für all die Phrasen, zu denen ich Zuflucht nahm. Viel häufiger aber war ich der nickende Zuhörer, der sich schweigend in seinen eigenen Gedanken verlor. Manchmal konnte ich mich tags darauf bloß an den Anfang des Abends erinnern, an unseren gemeinsamen Auftritt im Krummen Turm und an die Bratwürste.
Eines Abends saß inmitten dieser Leute ausgerechnet Fichtner in einem ockergelben Leinenjackett. Wie um mich mit stiller Verachtung zu strafen, schaute er zu mir herüber, ohne mich zu grüßen. Ich drehte meinen Stuhl halb zur Seite, um nur noch über Friedrichs Schulter hinweg zu ihm hinüberschielen zu können. Seelenruhig saß er da, so wirkte es jedenfalls, und es sah nicht aus, als mache er sich mit den Leuten hier gemein. Im Gegenteil, er wirkte gefaßt, keineswegs betrunken, in sich abgeschottet, aber mit einer Ausstrahlung, der man einen hartnäckigen Rest an Stolz anzumerken glaubte. Nicht einmal älter war er äußerlich geworden, man hätte sogar vermuten können, er liege tagelang am Strand und treibe Sport. Er rauchte wie früher Mentholzigaretten, wie man an der grünen Schachtel, die vor ihm auf dem Tisch lag, erkennen konnte. Ich überlegte, ihm ein Glas Wein zu spendieren, aber eine solche Geste wäre noch schäbiger gewesen als der Versuch, ihn zu ignorieren. Den ganzen Abend über vermied ich es, zur Toilette zu gehen, um eine Begegnung zu vermeiden, und ich war erleichtert, daß sein Platz leer war, als der Wirt die letzte Runde ausrief.
Nicht genug, daß Fichtner dort anzutreffen war, entdeckte Friedrich einmal in der anderen Ecke Hiroshi, worauf er den ganzen Tisch aufforderte, japanische Namen zu suchen, um sie laut durch den Raum zu rufen. Wie Rumpelstilzchen hätte ich mich am liebsten in die Erde gerammt, um nicht eine weitere Schmach über mich ergehen lassen zu müssen. »Futon, Kawasaki, Karaoke, Sushi, Sumo, Judo, Bonsai, Sake, Shiitake«, rief Friedrich litaneiartig über alle Tische hinweg, indem er sich auf den Stuhl stellte, um den ganzen Saal zu dirigieren, was anfangs kaum ein Echo fand, so daß er, von wenigen kläglichen Stimmen abgesehen, die ihm zu folgen versuchten, eine einsame Figur machte, was ihn freilich nicht davon abhielt, händeklatschend weiterzubrüllen: »Aikido, Jiu-Jitsu, Ikebana, Tamagotchi, Geisha, Mikado, Honda, Mitsubishi, Ferrari, Toyota, John Lennon, Yoko Ono«, bis er schließlich auf den Tisch kletterte und wie ein Gospelsänger die Kneipengemeinde in rhythmischem Hin und Her dazu aufforderte, es ihm gleichzutun, nur daß ihm allmählich die Begriffe ausgingen und er ständig »Harakiri, Kamikaze, Kimono, Kabuki« wiederholte, bis zu meinem Erstaunen auch Hiroshi und sein Freund mit einstimmten, so daß die halbe Kneipe lachte, während Friedrich auf Geheiß des Wirts wieder vom Tisch herabstieg und mit seinem schwarzen Hut bettelnd durch die Reihen hüpfte, um für die armen Studenten aus Japan, wie er erklärte, ein paar Räppli zu sammeln. »Kamikaze, Harakiri«, frohlockte er und repetierte dazwischen den Refrain: »Sie bringen sich um, wenn sie nichts zu essen haben.« Ich verließ das Lokal, und als Friedrich nachts an der Wohnung klingelte, ließ ich ihn zwar herein, schlug aber die Tür hinter ihm zu und fragte auch nicht, wie es weitergegangen war. Längst war ich in Geschichten verwickelt, die ich mir nicht ausgesucht hatte und die ihr Eigenleben zu entwickeln begannen. Es mußte weder Grandstetter noch Hiroshi interessieren, wie ich in sie hineingeraten bin, es reichte, daß sie mich als den Aufwiegler im Hintergrund ansehen und nicht wissen konnten, in welcher Lage ich mich befinde. Daß sie zwischen ihm und mir nicht unterscheiden konnten, war ihnen keineswegs zu verargen, schließlich hatte ich weder in der Bodega noch auf der Brücke meinem Begleiter lautstark Einhalt geboten. In ihren Augen, so war zu befürchten, schien ich meine heimlichen Bösartigkeiten vermittels eines Dritten auszuleben. Daß ich auf derart erbärmliche Siege, die mich selbst zerstören, nie setzen würde, hätten die beiden sich zwar denken können, aber vermutlich kam ihnen alles recht, was gegen mich spricht. Ich schlief in dieser Nacht keine einzige Sekunde, aber mein eiserner Wille, Friedrich beim Frühstück hinauszuwerfen, hielt nur so lange an, bis wir uns morgens im Flur begegneten und er mich unschuldig fragte: »Warum bist du abgehauen?« – »Ich muß endlich wieder arbeiten«, verteidigte ich mich mit brüchiger Stimme, was er mit der Bemerkung quittierte: »Was spricht denn dagegen?«
Zwar hatten wir uns immer weniger zu sagen, doch Friedrich schien unser Schweigen nicht zu stören, solange er das Gefühl haben durfte, daß ich mit ihm nicht widerwillig allabendlich in die Kneipe spaziere. Vielleicht empfand er unser wortkarges Zusammensein sogar als entlastend und deutete es als Zeichen einvernehmlichen Wohlbefindens, wie es nur Menschen kennen, die es bereits überwunden haben, sich ihre Stimmungen und Gedanken ständig mitteilen zu müssen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, daß er von meinem versteckten Grollen kaum etwas spürte, doch sollte er es bemerkt haben, machte es ihm offensichtlich nichts aus. »Selten war ich so zufrieden wie heute«, hatte er im Arlesheimer Dom vor sich hingenickt und mich dabei angeschaut, als verdanke er auch mir sein Basler Wohlgefühl. Ganz anders als in seinen Straßburger Erzählungen blendete Friedrich seine Vergangenheit jetzt beinahe aus. Es gab noch die eine und andere Geschichte, ein paar Erinnerungen an Pater Cölestin, an die lothringische Eremitei und seine Afrikanerin, aber keine Freunde, keine Freundin, keine Verwandten, keine Mutter, keinen Vater, keine Geschwister und keine Kollegen, als sei ich der einzig verbliebene Mensch in seinem Leben. Sowenig sein Name auf der Pförtnerliste der Mannheimer Musikhochschule zu finden war, sowenig schien noch ein anderes Wesen um ihn herum zu existieren. Als er mich nachts in Straßburg an sich drückte und massierte, fürchtete ich, ein Opfer seiner Neigungen zu sein, doch diese Angst erwies sich als unbegründet, schließlich war er restlos zufrieden damit, einfach bei mir zu wohnen und versorgt zu sein. Wäre Benno hier, dachte ich oft, hätten die beiden sich wenigstens etwas zu erzählen, aber nicht einmal eine solche Unterhaltung schien ihm zu fehlen. Immerhin, soviel stand fest, mußte er ein Konto besitzen, dessen er sich am Bankomaten bedienen konnte, obwohl er es so beiläufig wie behend einzurichten verstand, daß in der Kneipe die Rechnung meist an mir hängenblieb. Es mußte, so paradox es klingt, mein schlechtes Gewissen sein, das mich zum Zahlmeister werden ließ, schließlich wuchs von Tag zu Tag mein Wille, ihn nicht nur loszuwerden, sondern zu vernichten. ◻
>> return to the English translation of this text
>> read a synopsis in English of this novel
>> back to issue index |